Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Die Altruistin Noémie Zurlinden will, dass die Stadt


mehr Geld für dieArmutsbekämpfung einsetzt SEITE 18


Die Fusion der Spitäler Uster und Wetzikon


gestaltet sich schwierig SEITE 19


Die verschwundene Kapelle


Ein Stadtführer, ein Professor und ein Student beweisen, dass es auf dem Hönggerberg ein Gotteshaus gab


ADI KÄLIN


Im Anschluss an dieReformation sind


in Zürich zahllose Klöster, Kirchen und


Kapellen entweder sofort abgebrochen


oder für ganz andere Zwecke genutzt


worden.Das hat letztesJahr eineAus-


stellung der Abteilung Archäologie im


Zürcher Amt für Städtebau eindrück-


lich gezeigt. So sah man beispielsweise


auf sogenannten Kippbildern, wo die


verschwundenen Kirchen im heutigen


Stadtbild stünden; etwa das Oetenbach-


kloster auf einem Hügel über der Ura-


niastrasse.


Bildersturm in Höngg


Auch imVorort Höngg ging es da-


mals ähnlich zu.Kurz nach dem Amts-


antritt Zwinglis imJahr 1519 nahm dort


der Pfarrer Simon Stumpf seine Tätig-


keit auf, ein flammender Unterstützer


Zwinglis,der in seine Predigten so man-


chen Seitenhieb gegenKlöster einflocht


und schliesslich einen eigentlichen Bil-


dersturm herbeiführte. Ob damals auch


die Kapelle SanktTheodul und Sankt


Erhard auf dem Hönggerberg abgebro-


chen wurde, ist nicht bekannt.


Es wurde gelegentlich sogar ange-

zweifelt, ob es die Kapelle überhaupt


gegeben habe. So schrieb der Höngger


Pfarrer HeinrichWeber (1821–1900) im


Jahr1869 etwas widersprüchlich:«Unge-


wiss bleibt, ob auf der Höhe des Höng-


gerbergs eine alte Kapelle gestanden,


und in wie frühe Zeit für sie zu setzen


wäre. Im Kappeli, nordöstlich von dem


Dorfe, habe man zu Zeiten viel Ziegel-


stücke gefunden.»


Dem Erziehungswissenschafter, Alt-


stadtführer und leidenschaftlichen Ge-


schichtsforscher MaxFurrer liess die


Sachekeine Ruhe.Furrer hat auch


schon verschiedentlich für die«Neue


Zürcher Zeitung» geschrieben, etwa

über den einstigen Zürcher Musterbau-


ern Kleinjogg.


Ein tragbarer Altar


Dass es eine Kapelle auf dem Höng-

gerberg gegeben haben musste, wurde

beim Studium verschiedener Quellen

rasch klar. Der vermutlich erste direkte


Nachweis der Existenz einerKapelle

findet sich in den Investiturprotokol-

len der DiözeseKonstanz aus dem

15.Jahrhundert. Dort steht: «St.Theo-

dul und Erhard. Dem Leutpriester der


Pfarrkirche wird am18.April1437 vom


Bischof zuKonstanz dieVollmacht er-

teilt, dass er undseine Helfer in dieser


noch nicht geweihten Kapelle auf einem


tragbarenAltar fünfJahre lang die gött-


lichenÄmter feiern dürfen (...).»


Es wurden damals Altäre und nicht


Kapellen geweiht, deshalb kann man


auch nicht sagen, ob die Kapelle je ge-


weiht wurde. Der Name SanktTheodul,


auch SanktJoder genannt,erinnertan


den heiligen Mauritius, der in der Kirche


des ehemaligenRebbauerndorfs verehrt


wurde.Theodul hatte angeblich das Grab


des Heiligen entdeckt und darüber die


Abtei Saint-Maurice imWallis erbaut.


Blieb noch dieFrage, wo sich die

Kapelle befand. ImVerzeichnis der

Strassennamen von1999 wird unter

«Kappeli» erklärt, der Name leite sich

von der ehemaligen Kapelle ab, die dort


gestanden habe. Der Höngger Pfar-

rer Karl Stokar sah es in einer Bemer-


kung 2009 anders: Nicht beim Kappeli,


sondern in der Gegend von Kappen-

bühl habe bis zurReformationszeit

eine Kapelle gestanden, denn eigentlich


müsste der dortige Ortsname «Kappeli-


bühl» heissen. Um1525 sei die Kapelle


abgebrochen worden,ihr genauer Stand-


ort sei leider nicht überliefert.


Der Boden wird gescannt


Dass Stokarrecht hat, zeigten zwei

Quellen aus dem Staatsarchiv. In der

ersten, aus demJahr1543, ging es um

denVerkauf einesRebgeländes «ob dem


Dorf under SanntJoder gelegen stossent


einer sitten an das Klein gesteigg» (heu-


tigerVogtsrain). Die längst abgebro-

chene Kapelle diente also immer noch


als Ortsangabe. 1551 findet sich noch-

mals ein entscheidender Hinweis auf die


nicht mehr existierende Kapelle in einer


Quelle– und zwar im Kammeramtsur-


bar des Grossmünsterstifts, einem Be-

sitzrechtsverzeichnis.Darin ist dieRede


von einem «Aker uff dem Capellbü-

chel», der auf der einen Seite an den

Rebhang, auf der andern an die Strasse


stosse. In einer Marginalie wird darauf


hingewiesen, dass die Kapelle seinerzeit


bei diesemAcker gestanden habe.


Die Quellen belegten für MaxFur-

rer ganz klar, dass die Kapelleeben

doch beim heutigen Kappenbühl zu

suchen wäre, also auf dem Hügelzug

beiAugustfeuer undFindlingsgarten,

und nicht weiter nördlich Richtung

Affoltern im Kappeliholz, wie es die

Strassenbenennungskommission ange-

nommen hatte. Furrerkonnte Hans-

ruedi Maurer, denETH-Professor für

Erdwissenschaften, davon überzeu-

gen, dass man der Sache mit moder-

nen wissenschaftlichen Methoden nä-

her auf den Grundgehenkönnte. Der

Student Matthias Häberlin untersuchte

zu diesem ZweckbestimmteParzel-

len beim Kappenbühl mithilfe der so-

genannten geophysikalischen Prospek-

tion, mit der Anomalien im Boden ent-

deckt werdenkönnen.

Obwohl eine Gasleitung eine starke


Störquelle darstellte, gelang es Häber-

lin, in seinerBachelorarbeit «Kapelle

Höngg – archäologische Untersuchun-

gen mittels Magnetometer» solche

Anomalien festzustellen, die als Mauer-


reste in einerTiefe von etwa 1,5 Meter


interpretiert werdenkönnen. Eskönnte


sich dabei tatsächlich umReste der

Kapelle und des Bruderhäuschens han-


deln. Ob dies wirklich zutreffe,bleibe

letztlich aber offen,sagtFurrer. «In

Übereinstimmung mit den eindeutigen


historischen Quellen liegt dieVermu-

tung dazu nahe, und es liegt im Bereich


des Möglichen, dass es sich hierum den


St andort handelt.»


Eigentlich müsste man, um sicher zu


sein, Grabungen anstellen. DölfWild,

der Leiter der Stadtarchäologie Zürich,


will aber, wie MaxFurrer erklärt,vor-

läufig darauf verzichten, um den Ort

zu schützen und die Mauerreste erhal-


ten zukönnen. Denkbar wäre aber, dass


angrenzendeParzellen untersucht wür-


den, um schliesslich ein Gesamtbild der


geophysikalischen Situation des Hügel-


zugs erstellen zukönnen. Immerhin aber


kann heute schon aufgrund der Quellen


gesagt werden, dass es die Kapelle und


das Bruderhäuschen mit Garten wirk-

lich gegeben hat.


1Kilometer


NZZ Visuals/cke.


Zürich Affoltern


Höngg


Kappeliholz


KappenbühlKappenbühl


UmstritteneLage derKapelle


Derungefähre Standort (grosser Punkt)


und ein fälschlich angenommener


Zu dritt haben sie sich auf die Suche nach der Kapelle gemacht – Max Furrer(links), deram liebsten gleich losschaufeln würde, der Student Matthias Häberlin mit dem


Magnetometer,beobachtet von seinem ProfessorHansruedi Maurer. CHRISTOPH RUCKSTUHL /NZZ


«Gustav»


ist Geschichte


Residenz samt Restaurant


in der Europaallee vor dem Aus


URS BÜHLER


Man kann sich fragen, welches der grös-


sereVerlust sei für eine Stadt: jener


einer gehobenenWohnresidenz in Zen-


trumslage oder jener, dass eine der bes-


tenKüchen aufgelöst wird. Beides jeden-


falls steht, unter dem Namen «Gustav»


laufend, vor demAus in der Zürcher


Europaallee. Das eigentlich vor allem für


ältere Leute geplanteWohnangebot mit


gut siebzig Einheiten stelltdenBetrieb


auf Oktober 20 20 ein, dasRestaurant


schon imLaufe deskommenden Dezem-


bers. Dies teilt die Di-Gallo-Gruppe mit.


Man habe den Mietvertrag mit den SBB,


an welche die Liegenschaft nun zurück-


falle, frühzeitig aufgelöst: «Die Nach-


frage nachWohnungen mit umfassen-


den Serviceleistungen an zentralerLage


hat sich als geringerwiesen.»


Koch Colaianni enttäuscht


Allerdings war das wohlvorallemeine


Frage des Preises.Kurz vor der Eröff-

nung des Neubaus imJahr 20 16 waren


die Mietzinse für 1,5 bis 4,5 Zimmer

zwischen 70 00 und 15000 Franken an-


gesetzt; danach machte man einige Ab-


striche beim Standard und bot 1,5-Zim-


mer-Wohnungen ab knapp 50 00 Fran-

ken an.Von Beginn an wurdekolpor-

tiert, das blumigangepriesene Angebot


stosse auf wenig Zuspruch.Dabei hatte


die Di-Gallo-Gruppe, die auch Pflege-

zentren und Hotels betreibt, ihr Pres-

tigeobjekt mit allen erdenklichen An-

nehmlichkeiten ausgerüstet, vom Con-

cierge- über denWäscheservice bis zur


Dachterrasse mitWhirlpool.Auf einer

Etagegibt es zudem eine Pflegeabtei-

lung.DieWohnungen mit originellen

Grundrissen bieten eine Loggia und

zumTeil einen berauschenden Blick auf


die Gleisfelder, wie man bei einer Be-

sichtigung kurz nach der Errichtung ein-


mal feststellenkonnte.


Einer breiteren Öffentlichkeit be-

kannt geworden ist derKomplex durch


den Gastbetrieb. Dieser kam anfäng-

lich nichtrechtaufTouren,ehe vor gut


dreiJahren Antonio Colaianni dasRu-


der übernahm. Der Meister mit Ber-

nerdialekt und apulischen Wurzeln

hatte vorher unter anderem schon im

«Mesa»bewiesen, einerder bestenita-


lienischenKöche der Region zusein.

Seine mediterran inspirierten Kreatio-

nen, etwa seine famose Bouillabaisse,

und tolle Desserts haben das «Gustav»


zu 17 Gault-Millau-Punkten und einem


Michelin-Stern geführt.


Dem zugehörigen Café versuchte

dasTeam mit diversenKonzepten Le-

ben einzuhauchen, was sich als schwie-


riger herausstellte. Doch dasRestaurant


war trotz der mangelhaften Belegung

des Hauses sehr gut besucht, wie Colai-


anni im Gespräch sagt. Mit einem etwas


vernünftigeren Mietpreis hätte man hier


durchaus weiter wirtenkönnen,sagt er.


Aber künftig werde es imParterrekeine


Restauration mehr geben. Er bedaure

das Ende stark, sei er doch gerne hier

gewesen. Nun müsse er schauen, wie es


für ihn und seinTeam weitergehe. Er

habe diverse interessanteAngebote er-


halten, in Zürichund Umgebung, so dass


er zuversichtlich sei.


Die SBB übernehmen


Im gesamten Hochhaus verlieren laut

Communiqué der Di-Gallo-Gruppe

rund fünfzigPersonen ihreArbeit, falls


alle Stellenverloren gehen.Das für die-


senFall vorgeschriebeneKonsultations-


verfahren sei eingeleitet und ein Sozial-


plan erstellt, wobei man einzelne Ange-


stellte in der Gruppe weiterbeschäftige.


In derResidenz gibt es offenbar einige


wenige Bewohner mit unbefristeten

Mietverträgen. Diesen wollen die SBB


laut Mitteilung neueVerträge anbieten.

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