Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Mittwoch, 2. Oktober 2019


«Starkes Zeichen» oder «Ziel verfehlt»?


Rot-Grün ist für den Gegenvorsc hlag zur «1-Prozent-Initiative», FDP und SVP halten dagegen


dfr.· Dieextr eme, globale Armut hat


in denletztenJahrzehnten stark abge-


nommen. Heute müssen noch rund 10


Prozent derWeltbevölkerung mit weni-


ger als zwei Dollar proTag auskommen.


Vor vierzigJahren waren es fast 45 Pro-


zent.Trotz der positiven Entwicklung


schätzt dieWeltbank, dass immer noch


700 Millionen Menschen in extremer


Armut leben.


Die Stadt Zürich versucht, das Leid


zu lindern.Jährlich spricht sie Beiträge


für weltweite Entwicklungshilfe. Einer


breiten Allianz von SP, Grünen, AL,


GLP und EVP genügen die bisherigen


Anstrengungen aber nicht. Sie unter-


stützt einen Gegenvorschlag zur mitt-


lerweile zurückgezogenen1-Prozent-In-


itiative, die 2016 eingereicht wurde. Der


Vorschlag, der am17.November an die


Urnekommt, sieht vor, dass die Stadt


künftig jährlich mindestens 0,3 bis maxi-


mal 1 Steuerprozent für Hilfsbeiträge


bereitstellen soll. Gegenwärtig entsprä-


che dies einem Betrag von 6 bis18 Mil-


lionenFranken.


ZumVergleich: LetztesJahr spen-

dete die Stadt 3 MillionenFranken für


diverse Projekte imAusland – von der


Trinkwasseraufbereitung in Burkina

Faso über Bildungs- undFriedensförde-


rung im Südsudan bis zum Schutz von


Flussdelfinen in Kambodscha. Der Zür-


cherFinanzvorsteher hat bereits ver-

lauten lassen, dass er bei einemJa zur

Vorlage den Betrag im nächstenJahr

auf 8 bis 9 MillionenFranken erhöhen


möchte.


Am Dienstag haben die Befürwor-

ter an einer Medienkonferenz ihre

Argumente dargelegt. Der grüne Ge-

meinderat Luca Maggi sagte, dass mit

der Zustimmung zurVorlage ein «star-


kes Signal» gegenüberanderen Ge-

meinden gesendet würde,dass Entwick-


lungszusammenarbeit zu einer verant-

wortungsvollen und solidarischenKom-


munalpolitik dazugehöre. Zürich mit

seinem wichtigen Finanzplatz leiste

«einen kleinen, aber starken Beitrag an


eine Rückumverteilung von denreichen


zu denarmenRegionen».


SP-Gemeinderat Florian Utz sagte,


dass dieVorlage eine seit bald 50Jah-


ren bewährte und demokratisch legiti-


mierteTradition in Zürich fortführe. Als


eine derreichsten Städte derWelt könne


Zürich mit einemrelativ kleinen Betrag


sehr viel erreichen. «Zürichkann sich


diese Hilfe zur Selbsthilfe leisten», sagte


Utz. GLP-Gemeinderat Pirmin Meyer


sprach von einem gutzürcherischenKom-


promiss. Die ursprüngliche Initiative sah


vor, dass 1 Prozent des Gesamtbudgets


der Stadt für die Entwicklungshilfe ge-


nutzt werden sollte. Dies hätte einem Be-


trag von rund90 MillionenFranken ent-


sprochen. «Das wäre zu weit gegangen»,


sagte Meyer. Der im Stadtparlament er-


arbeitete Gegenvorschlag sei hingegen


finanziell tragbar.Vor allem auch, weil


die Stadt die Beiträge bei wiederholten


Bilanzfehlbeträgen kürzen oder ganz


streichenkönne. Positiv sei zudem, dass


beimVergabeverfahren möglichst tiefe


Kosten anfallen sollen und, wo sinnvoll,


eine Koordination mit dem Bund ange-


strebt werdensoll.


Gegen dieVorlage setzensich FDP


und SVP ein. FDP-Präsident Severin

Pflüger findet es falsch, dass die Stadt

Zürich von sich aus Entwicklungshilfe

betreibt. «Das sollte eine Bundesauf-

gabe sein», sagt er auf Anfrage. In der

städtischenVerwaltung fehle das nötige


Know-how für eine transparenteVer-

gabe. Das zeige die bisherige Praxis, die


zu einerrelativ beliebigenFörderung ge-


führt habe. «Einenroten Faden kann ich


nichterkennen», sagt er.


Generell zweifelt Pflüger am Nutzen


der traditionellen Entwicklungshilfe.

Allzu oft würden die Menschen von der


ausländischen Hilfe abhängig gemacht

oder würden nicht überlebensfähige

Strukturen am Leben erhalten. «Da-

mit wird das Ziel verfehlt.» Der FDP-

Gemeinderat hält gezielte Investitionen


in ortsansässige Unternehmen für eine


effektivereVariante, um Entwicklungs-


länder zu unterstützen.Das Ziel müsse


es sein, ein nachhaltigesWirtschafts-

system aufzubauenund einen funktio-

nierendenRechtsstaat zu schaffen.


«Gutmensch» hört sie nicht gerne


Noémie Zurlinden spendet jedes Jahr zehn Prozent ihres Einkommens für wohltäti ge Zwecke


DANIEL FRITZSCHE


Schon als Kind störte sich Noémie Zur-


linden an Ungerechtigkeiten in der


Welt. «Warum leben wir im Überfluss,


und Menschen in Afrika leiden an Hun-


ger?», fragte sie. Immer wieder kam sie


ins Grübeln:«Wiekann ich Gutes tun?


Wie kann ich helfen?»Von ih rem ers-


ten selbstverdienten Geld spendete sie


einen Betrag an wohltätige Organisatio-


nen.Nach der Matur arbeitete sie für ei-


nige Wochen als freiwillige Helferin in


einem Kinderheim inKenya.


Zurlinden muss lachen, wenn sie an


ihr jugendliches, manchmal naives En-


gagement zurückdenkt. DerAufenthalt


in Kenya sei zugegebenermassen eher


für sie selber ein Abenteuer gewesen,


als dass es den Kindern vor Ort viel ge-


bracht hätte. Ihr «Helfer-Gen» lebt die


29-Jährige heute anders aus.Auch wenn


sie mit solchen Begriffen wenig anfan-


gen kann.Auch als «Gutmensch» sieht


sie sich nicht. «Das hat heute einen


komischen Beigeschmack», sagt sie.


Beim Gespräch imRestaurant Karl

im Zürcher Oberdorf streicht die Öko-


nomin heraus, was fürsie in der Ent-


wicklungshilfe– oder «Entwicklungs-


zusammenarbeit», wie siekonsequent


sagt – wichtig ist: dass das Geld, das in


Organisationen fliesst, effektiv genutzt


wird. «Unsere Ressourcen sind be-


grenzt», sagt sie. «Wir sollten sie gezielt


einsetzen.» Genau dies versucht sie mit


ihrer Arbeit zu erreichen.


Zurlinden engagiert sich in der Stif-


tung für Effektiven Altruismus. Die


Organisation setzt sich wissenschaftlich


und philosophisch mit demThema Ent-


wicklungshilfe auseinander. Vorläufer


finden sich im englischsprachigenRaum.


In der Schweiz ist die Stiftung vor sieben


Jahren an der UniversitätBasel gegrün-


det worden, heute gibt es Ableger an


allen wichtigen Hochschulen desLan-


des, dazu in Deutschland, Österreich,


den USA und bald in Grossbritannien.


Sie hat mehrere tausend Unterstützer.


In der Stadt Zürich hat die Stiftung


vor dreiJahren die1-Prozent-Initiative


lanciert. Am17.November stimmen die


Zürcherinnen und Zürcher über einen


Gegenvorschlag ab, mit dem die städti-


schen Beiträge für dieAuslandshilfe deut-


lich erhöht werden sollen (siehe unten).


«Wir sindkeine Religion»


Noémie Zurlinden ist während ihres


Volkswirtschaftsstudiums an der Uni-


versität Bern erstmals mit den Ideen des


Effektiven Altruismus – oder kurz EA



  • in Kontakt gekommen. Die gebürtige


Thunerin besuchte eineVeranstaltung


und warsofort begeistert. Seitherver-


sucht sie, jedesJahr zehn Prozent ihres


Einkommens zu spenden.Mit ihrem be-


scheidenen Nebenjoblohn während des


Studiums sei dies nicht möglich gewe-

sen; da seien es kleinere Beträge gewe-


sen.Heute, als Doktorandin an der Uni-


versität St. Gallen (HSG), falle es ihr

leichter. «Wir haben genügend Geld»,

sagt sie. «Andere auf derWelt nicht.»


Die Ideen seien auch an der HSG

auf fruchtbaren Boden gefallen.An der


Eliteuniversität gebe es nicht bloss ego-


istische «homines oeconomici», deren

Lebensziel es sei, einmal einen mög-

lichsthohen Bonuseinzufahren. «Auch


hier gibt es ganz viele emphatische Men-


schen,die wollen, dass dieWelt gerech-


ter wird», sagt Zurlinden.Unterneh-

mensnachhaltigkeit («corporate sustai-

nability») sei heute auch in derWirt-

schaftswelt ein wichtiger Grundsatz.


EineVerpflichtung zu spenden geht


kein EA-Unterstützer ein.«Wir sind

keine Religion», betont Zurlinden.«Wir


verstehen uns als Forschungsprojekt

und soziale Bewegung.» Alles beruhe

auf Freiwilligkeit. Manche machten ihre


Spendenabsicht online publik, um den

Druck zu erhöhen, das eigeneVerspr e-


chen einzulösen.


Zurlindens Doktorarbeit in der

Entwicklungsökonomie passt zu ihrer

Lebenseinstellung. Konkret befasst sie

sich mit der Arbeit derWeltbank in

Afrika. Sie erforscht, wohin die Ent-

wicklungsgelder der multinationa-

len Institution fliessen und ob sie den

gewünschten Effekt erzielen.Dabei

sieht sie immer wieder, dass nicht alles

so läuft, wie es sollte. Es scheine, dass

viele Gelder just in jeneRegionen wei-

tergeleitet würden, wo Gesundheits-

minister von afrikanischen Staaten her-

kämen. Dies weise darauf hin,dass die

Gelder nicht optimal verteilt würden,

sagt Zurlinden.

Grundsätzlich müsse es darum

gehen, dort viel Geld einzuschiessen,

wo ein möglichst grosser Effekt er-

zielt werdenkönne – und dort die Not-


bremse zu ziehen, wo die Entwicklungs-


gelder nichts brächten oder sogar scha-


deten. Zurlinden nennt das Beispiel der


Mikrokredite, die vor ein paarJahren

stark in Mode waren.«St udie n zeigen,

dass solche Kredite die extreme Armut


nichtreduzieren.» Im schlimmstenFall


überschuldeten sich die Empfängerin-

nen und Empfänger in Entwicklungs-

länder undkönnten die Zinsen nicht

mehr zahlen.


Besser eingesetzt seien Spenden-

gelder zum Beispiel in der medizini-

schenForschung, sagt Zurlinden.«Wenn


neue Medikamente oder Impfungen

entwickelt werden,können Millionen

von Menschen gerettet werden.» Sie

nennt den erfolgreichen Kampf gegen

die Pocken als gelungenes Beispiel

effektiver Hilfe.Auch direkte, bedin-

gungslose Geldtransfers in gewisse Ge-


biete erzielten eineWirkung.


Zürich alsVorbild


Auch wenn Privatpersonen spenden,

sollten sie genau schauen, wohin ihr

Geld fliesst. Unabhängige Evaluatoren


wie die amerikanische «GiveWell» hel-


fen dabei, seriöse Hilfswerke zu finden.


Zum einen prüfen sie, welche Organisa-


tionen objektiv am meisten Menschen-


lebenrett en. Zum anderen schauen

sie, ob die jeweiligen Hilfswerke über-

haupt auf mehr Geld angewiesen sind.


Immer wiederkommt es vor, dass ein-


zelneInstitutionen nach einer Kata-

strophe wie etwa dem Tsunami 2004 im


Indischen Ozean mit Spenden überhäuft


werden und dann gar nicht wissen, was


sie mit dem vielen Geld anfangen sollen.


«Das ist dann auch nicht mehr effektiv»,


sagt Zurlinden.


In denkommendenWochen möchte


die Ökonomin in Zürich für den Gegen-


vorschlag zur1-Prozent-InitiativeWer-

bung machen. Besonders schätzt sie es,


dass bei derVergabe der Entwicklungs-


gelder in Zukunft stärker aufFaktoren


wieWirksamkeit,Wirtschaftlichkeit und


Transparenz geachtet werdensoll. «Die


Stadt Zürich wäre eineVorreiterin in

di esen Bereichen.» Sie findet:Davon

könnten sich auch der Bund oder die so-


garWeltbank eine Scheibe abschneiden.


NoémieZurli nden setzt sichfür effektive Entwicklungshilfe ein. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ


Frau will Mann


umbringen und


richtet sich selbst


Am Montag fanden


Rettungskräfte in einer


KüsnachterWohnung eine tote


Rentnerin und ihren verletzten


Ehemann. Nun sind neue Details


zum Fall bekanntgeworden.


NILS PFÄNDLER


Nach derzeitigem Ermittlungsstand


gehen die zuständige Staatsanwalt-


schaft I des Kantons Zürich und die


Kantonspolizei von einem Beziehungs-


bzw.Tötungsdelikt aus. Der Sprecher der


Oberstaatsanwaltschaft gab am Dienstag


auf Anfrage bekannt, dass die 82-jährige


Ehefrau offenbar zuerst versucht habe,


ihren 90-jährigen Ehemann mit einer


Schusswaffe zu töten,und sich anschlies-


send selbst gerichtet habe. Ihr Partner


überlebte dieTat schwer verletzt. Diese


Erkenntnisse stützen sich auf dievorge-


fundene Situation amTatort,die Spuren-


auswertungen durch dasForensische In-


stitut Zürich, die Obduktion des Insti-


tutes fürRechtsmedizin der Universität


Zürichsowiedie ersten durchgeführten


Befragungen.Derzeit gebe eskeine Hin-


weise, dass neben der Ehefrau weitere


Personen als Täter infrage kämen, heisst


es weiter. Hintergründe, Motiv und ge-


nauer Ablauf derTat sind Gegenstand


der weiteren Ermittlungen.


Am frühen Montagnachmittag war

bei der Kantonspolizei die Meldung ein-


gegangen, dass sich in derWohnung in


Küsnacht eine lebloseFrau befinde. Die


Rettungskräfte entdeckten daraufhin

die bereits verstorbene 82-Jährige und

ihren verletzten 90-jährigen Ehemann.


Ungewöhnliche Täterschaft


Diesen Sommer sorgten im Kanton

Zürich gleich mehrereTötungsdelikte

im familiären Umfeld für Schlagzeilen.


Vor rund einem Monat erschiesst ein

betagter Ehemann in Albisrieden zu-

nächst seineFrau und danach sich sel-


ber.WenigeTage zuvor tötet ein Mann


seine getrennt von ihm lebende Ehefrau,


nachdem er sie zuvor mehrere Male be-


lästigt hat. EndeJuli bringt ein 33-Jäh-


riger inAu bei Wädenswil seine 24-jäh-


rige Freundin um. Im gleichen Monat

löscht einVater in Affoltern am Albis

seine ganzeFamilie aus. Und imFrüh-


jahr nimmt ein 60-Jähriger in Zürich

zweiFrauen als Geiseln und erschiesst


einige Stunden später die zwei Opfer

und sich selber.


Die Hintergründe und Motive vie-

ler dieserTaten bleiben imDunkeln.

Eines haben sie aber gemeinsam: Die

Täter waren allesamtMänner. Eine

Frau als Gewalttäterin wie beim aktu-

ellen Tötungsdelikt inKüsnacht ist äus-


serst ungewöhnlich.Das bestätigt auch


die Statistik.Laut einer Erhebung aus

demJahr 2016 starben in der Schweiz

vor dreiJahren19 Menschen infolge

häuslicher Gewalt.Davon waren 95 Pro-


zent Frauen.Von den damals insgesamt


17 685 Fällen von Gewalt in den eige-

nen vierWänden waren dreiViertel der


OpferFrauen.


13 Fälle proTag


Die Zahlen sind erschreckend.Auch, was


den Trend betrifft: Insgesamt steigt in der


Schweiz die Zahl vonFällen häuslicher


Gewalt nämlich an – und dieDunkelziffer


dürfte weitaus höher sein als die Anzahl


registrierterVorkommnisse. Allein im


Kanton Zürich muss diePolizei durch-


schnittlich 13 Mal proTag wegen häus-


licher Gewalt ausrücken. Laut der poli-


zeilichen Kriminalstatistik handelt es sich


dabei meist umTätlichkeiten,Drohungen


odereinfacheKörperverletzungen.


Der Kanton hat in den letztenJahren


bereits einiges in Sachen Gewaltschutz


und Gewaltprävention unternommen.

Der Regierungsrat kündigte diesesJahr


zudem an, den Kampf gegen Übergriffe


im häuslichenRahmen zu intensivieren.


Dazu sollein ganzes Bündel von Mass-


nahmen erlassen werden. Unter ande-

rem sollen die jährlichen Beiträge an

privateFrauenhäuser per 2020 auf 1,

MillionenFranken ansteigen.

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