Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 23


In Südostasien zeitigt der chinesisch-amerikanische


Handelsstreit deutliche Folgen SEITE 26


An der Entwicklung bahnbrechenderTechnologien


können Unternehmen fast zugrunde gehen SEITE 27


Altersvorsorge ohne Greta Thunberg


In diesemWahljahr ist Nachhaltigkeit in SachenUmwelt inMode, dochbei AHV und zweiter Säule ist der gegenteilige Kurs angesagt


HANSUELI SCHÖCHLI


In knapp zwanzigTagen wählt die


Schweiz das neueBundesparlament.


Glaubt man den Umfragen, ist Grün


die Farbe desJahres. EineFolge davon


ist derKurswechsel der FDP imFrüh-


jahr. Diesen Dienstag hat diePartei vor


den Medien in Bern daran erinnert,dass


sie ihremVersprechen einer verstärkten


Umwelt- und Klimapolitik schon erste


Taten folgen liess.


Es geht in der Klimapolitik nicht um


die Rettung der Erde, sondern darum,


die kommenden Generationen der


Menschen vor hohen Hypotheken zu


bewahren.DieserKurs der «Nachhaltig-


keit» klingt edel. Doch dieParteien sind


in Sachen Nachhaltigkeit selektiv. So


ist es in der Altersvorsorge Mode, den


kommenden Generationen möglichst


hohe Hypotheken anzuhängen. Die in


der AHV und der beruflichenVorsorge


derzeit diskutierten «Reformen» ver-


dienen diesen Namen nicht, da sie das


Übel der Umverteilung vonJung zu Alt


nicht an derWurzel packen. Die AHV


soll vor allem durch Mehreinnahmen


saniert werden, die schwergewichtig die


Jüngeren finanzieren,und in der zweiten


Säulestehtfür gewisse ältereJahrgänge


sogar ein Leistungsausbau zulasten der


Jüngeren zur Diskussion.


Rot kommtvor Grün


Wäre die Nachhaltigkeit in der Alters-


vorsorge ähnlich in Mode wie in der


Umweltpolitik, hätte zum Beispiel die


SP in diesemWahljahr schon wiederholt


versprochen, im Interesse der Genera-


tion engerechtigkeit für die Erhöhung


des Rentenalters und das Einfrieren


der laufenden Altersrenten zu kämp-


fen. Doch so etwas ist nicht einmal im


Ansatz passiert.Auch die grossen bür-


gerl ichenParteien wagen es in diesem


Wahljahr nicht, sich für eine nachhal-


tige Reform der Altersvorsorge stark-


zumachen; einzig die Grünliberalen


sind konsequent in Sachen Umwelt und


Altersvorsorge auf Nachhaltigkeitskurs.


Die Grünen, die sich besonders

gerne mit dem Etikett der «Nachhaltig-


keit» verkaufen,beharren derweil in der


Altersvorsorge wie derRest des Links-


blocks auf der bewährtenPolitik nach

dem Motto «Nach uns die Sintflut».Vor


einigenJahren hatten die Grünen so-

gar noch die Gewerkschaftsinitiative

«AHV plus» unterstützt, die einen wei-


terenAusbau der AHV-Leistungen zu-


lasten derJüngeren gebracht hätte, aber


2016 an der Urne scheiterte. Diese Hal-


tung der Grünen entspräche in der Um-


weltpolitik dem Sukkurs für eineVolks-


initiative zur Subventionierung von

Kohle, Benzin oder anderen stark um-


weltbelastenden Stoffen.


Wie erklärt sich diese Diskrepanz

zwischen Klimapolitik und Altersvor-

sorge?Wer grünePolitiker auf die selek-


tive Benutzung der Forderung nach

«Nachhaltigkeit» anspricht, wird mit

dem Verweis auf die «soziale»Kompo-


nente der Altersvorsorge belehrt.Kon-


kret heisst dies: BeiWidersprüchen zwi-


schen «grüner»Politik (Nachhaltigkeit)


und «roter» Politik (staatliche Umver-

teilung von oben nach unten) ist «rot»


weit wichtiger.In der Altersvorsorge

hängt die Umverteilung von oben nach


unten mit der Umverteilung vonJung zu


Alt zusammen.Die Linke will möglichst


viel von oben nach unten umverteilen

und nimmt die Belastung derJungen

bewusst in Kauf. In der Umweltpolitik


gibt es dagegenkeinen direkten Zusam-


menhang der Umverteilungskanäle von


oben nach unten und vonJung zu Alt.


Global contra national


Eine weitere Differenz betrifft die geo-


grafische Dimension. Die Schweizer

Klimadiskussion sei stark durchdie

internationale Debatte beeinflusst, sagt


Lukas Golder vomForschungsinstitut

GfS Bern. EinPendantzur 16-jährigen


schwedischen Umweltaktivistin Greta

Thunberg sucht man in der Altersvor-

sorge dagegen vergeblich.Viele reiche

Länder kämpfen zwar mit ähnlichen

demografischen Problemen, doch die

Vorsorgesysteme sind unterschiedlich,

jedesLand kann seine Probleme für sich


selber lösen,und eine internationaleKo-


ordination ist dafür nicht nötig.


Dies müsste eigentlich eine nachhal-


tige Sanierung der Altersvorsorge im

Vergleich zum Klimaproblem erleich-

tern, da die Gefahr desTrittbrettfah-

rens nicht besteht:Jedes Land, das sein


Vorsorgesystem saniert, hat selber den


vollen Nutzen davon. Doch die direkte


Demokratie der Schweiz tut sich schwer


damit, weil nachhaltigeReformen direkt


ans Portemonnaie der zahlenmässig

starken älteren Generationen gingen.

Der Politologe Lukas Golder ortet in

der Altersvorsorge einen starkenWi-

derstand gegen denVerzicht auf Privi-


legien in etablierten Sozialwerken. Pri-


vilegien sind Drogen: Droht derWeg-

fall,kommt es zumAufschrei.Dass viele


Renten der älteren Generationen sub-

ventioniert sind,ist zudem gut versteckt,


was Betroffenen und ihren Lobbyisten


erlaubt, sich selber und anderen vorzu-


gaukeln, dass man gar nicht subventio-


niert sei und die ganzeRente sauer ver-


dient habe. Beliebt ist auch die Floskel,


wonach der Arbeitsmarkt ein höheres

Rentenalter gar nicht verdauen würde.


Die Floskel ist zwar sachlich falsch,aber


für Heuchler genügt es, dass sie halb-

wegs plausibel klingt.


Es darf nichtweh tun


Auch eine strengere Klimapolitik

könnte ansPortemonnaie gehen, doch

die finanziellenFolgen erscheinen weni-


ger direkt und klar als bei derAltersvor-


sorge. Bei denkommendenParlaments-


wahlenkönnten Bürger deshalb vorder-


handrelativ billig ihr eigenes Klimage-


wissen beruhigen,indem sie Grünliberal


oder Grün wä hlen – und hoffen,dass die


Suppe dann nicht so heiss gegessen wie


gekocht wird. Eine Umfrage von GfS

Bern imAuftrag des «Blicks» von die-


sem Frühling zeigte ein Bild, das auch

bei anderenPolitikthemen gängig ist:

Am populärsten ist das, was nicht weh


zu tun scheint. ImFall der Klimapoli-

tik sind diesForschungsförderung so-

wie Subventionen für klimafreundliches


Verhalten; wer dieKosten dafür via

Steuererhöhung oder Sparübungen an

anderen Orten trägt, ist nicht sichtbar.


Immerhin sprachen sich in jener

Umfrage etwas mehr als 50% auch für


höhereAbgaben auf klimaschädlichem


Verhalten aus. Nicht mehrheitsfähig

war derweil der persönlicheVerzicht

etwa auf einAuto oderFlugreisen.Dies


gilt laut der GfS-Studie besonders stark


für dieJungen: «Überall dort, wo die

direkte Betroffenheit gross ist, fällt ein


individuellerVerzicht schwer,(Klima-)


Demonstrationen hin oder her.»


Wenn es um die Altersvorsorge geht, handeln SP und Grüne nachdem Motto «Nach uns die Sintflut». GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE


Beim Geld tickt die Romandie anders als der Rest der Schweiz


Westschweizer neigenlaut einer Studie weniger zum Sparenund haben einehöhere Wahrscheinlichkeit, sichzu verschulden


THOMAS FUSTER


Menschen sindkeine kühl kalkulieren-


den Maschinen.IhrVerhalten wird auch


geprägt von Herkunft,Kultur und Spra-


che. In der ökonomischenForschung


wurden solche «weichen» Faktoren


lange Zeit eher vernachlässigt.Das hat


sich in jüngererVergangenheitgeändert.


So zeigt sich auch in der Schweiz, dass


die Bevölkerung je nach Herkunft in


ökonomischenFragen unterschiedlich


tickt.Das kann – muss aber nicht – auch


kulturelle Gründe haben.


Zahlen des Bundesamtes für Sta-

tistik zeigen beispielsweise,dass


Westschweizer weniger sparen als die


Deutschschweizer. Personen aus der


französischsprechenden Schweiz – und


auch jene aus demTessin – sind zudem


stärker verschuldet als Leute im deut-


schen Sprachraum. Nunkönnteman


argumentieren, dass in der Deutsch-


schweiz schlicht mehr Geldvorhanden


sei und am Monatsende mehrBares


zum Sparen übrig bleibe. Die Erklä-


rung wäre also im unterschiedlichen


Wohlstand zu suchen.


Es gibt aber auch Erklärungen, die

auf der Einstellung zum Staat fussen.

So wird argumentiert, in der Deutsch-

schw eiz dominiere – anders als in der

lateinischen Schweiz – ein eher libera-


les Staatsverständnis. Deutschschweizer


stützten sich also stärker auf ihreeige-


nen Ressourcen ab und sparten tenden-


ziell mehr.Ein alternatives Narrativ be-


tont eine angeblich grössereUngeduld


in der lateinischen Schweiz. Dort sei

man weniger bereit,materielleWünsche


in die Zukunft zuverschieben.


KeinWert per se


Forscher der UniversitätFreiburg haben


nun einen alternativen Ansatz gewählt.


Sie gehen derFrage nach, ob die Men-


schen in den verschiedenen Sprach-

räumen der Schweiz aus kulturellen

Gründen eine andere Einstellung zum

Geld an denTag legen.Das vom Schwei-


zerischen Nationalfonds unterstützte

Projekt hat hierzu 1390 junge Männer

und Frauen im Alter von18 bis 30 Jah-


ren befragt.Thematisiert wurden die

mit Geld verbundenenWerte, das finan-


zielleVerhalten (z.B. die Sparneigung)


und dieVerschuldungssituation.


Die wichtigsten Ergebnisse wurden

vor kurzem in der Zeitschrift «Die

Volkswirtschaft» präsentiert. Es zeigt

sich, dass dieWahrnehmung des Gel-

des in der Schweiz grundsätzlichrecht

homogen ist. Geld wird primär als Mit-


tel wahrgenommen,um f rei zu sein und


das tun zukönnen,was man will.Hinge-


gen erhält die Meinung, dank Geld

mehr Macht zu haben, soziale Aner-

kennung zu erhalten oderFreunde zu

gewinnen, nur schwache Unterstützung.


Anders formuliert: Geld wird nur sel-

ten alsWert pe rsebetrachtet; das gilt

für das ganzeLand.


Gibt es somit garkeinen Röstigraben


beim Geld? Doch, ein solcher Graben


existiert laut den Forschern durch-

aus. Um dies zu zeigen, haben sie auf-


grund der Umfrageresultate drei do-

minante Einstellungen zu Geld ausge-


macht. Bei der ersten Einstellung ist

Geld vor allem mit Prestige und Macht


verbunden. Bei der zweiten Einstellung


steht das «guteVerwalten» des Geldes


im Fokus. Und im drittenFall domi-

niert eine «pragmatische Einstellung»;

Geld erscheint als Mittel zur Erreichung


diverser Zwecke.


Es zeigt sich, dassMänner,in der

Schweiz lebendeAusländer undPerso-


nen mit sehr hohem Einkommen das

Geld häufiger mit Prestige und Macht in


Verbindung bringen;Geld wird in die-


ser Gruppe auch als Mittel gesehen,

um sichRespekt und Status zu ver-

schaffen. Schweizer mit mittlerem Bil-


dungsstand betonen derweil vor allem


das «guteVerwalten», also eine seriöse


und besonnene Haltung. «Der bedeu-

tendsteParameter ist jedoch die Sprach-


region», schreiben dieAutoren.«Je nach


Landesteil sind die Einstellungen unter-


schi edlich verteilt.»


Nüchterne Deutschschweiz


Dabei zeichnet sich aber nicht jede

Sprachregion durch einejeweils typische


Einstellung aus.Vielmehr zeigt sich,dass


alle drei genannten Einstellungen in der


Westschweiz stärker ausgeprägt sind als


in den übrigenLandesteilen.Wie kann


dieses überraschende Ergebnis interpre-


tiert werden?Laut denForschern zeigt


das Resultat, dass in der deutschen und


der italienischen Schweiz ein «instru-

mentelleres» – mankönnte wohl auch

sagen:nüchterneres –Verhältniszu Geld


herrscht als in derWestschweiz.


Was heisst das? In derWestschweiz

wird Geld vergleichsweise stärker

auch mit sozialen Beziehungen oder

Machtverhältnissen in Beziehung ge-

bracht. In den anderen Sprachregionen


misst man dem Geld demgegenüber

einenehergeringensozialenodersymbo-


lischenWert bei.AusderForschungweiss


man nun, dass jede Einstellungauch ein


bestimmtesVerhalten begünstigt. Wird

Geld als Spiegel von Macht undPres-

tige gesehen,erhöht diesbeispielsweise


das Risiko, sich zu verschulden.


Die Studie bestätigtinder Tat, dass


die Westschweizer imVergleich mit den


Deutschschweizern nicht nur eine ge-

ringere Neigung zum Sparen aufweisen.


Zu beobachten istauch eine höhere

Wahrscheinlichkeit, sich zu verschul-

den, einen Leasingvertrag abzuschlies-


sen oder mitZahlungsverpflichtungen

in Rückstand zu geraten.

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