Mittwoch, 2. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 23
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Altersvorsorge ohne Greta Thunberg
In diesemWahljahr ist Nachhaltigkeit in SachenUmwelt inMode, dochbei AHV und zweiter Säule ist der gegenteilige Kurs angesagt
HANSUELI SCHÖCHLI
In knapp zwanzigTagen wählt die
Schweiz das neueBundesparlament.
Glaubt man den Umfragen, ist Grün
die Farbe desJahres. EineFolge davon
ist derKurswechsel der FDP imFrüh-
jahr. Diesen Dienstag hat diePartei vor
den Medien in Bern daran erinnert,dass
sie ihremVersprechen einer verstärkten
Umwelt- und Klimapolitik schon erste
Taten folgen liess.
Es geht in der Klimapolitik nicht um
die Rettung der Erde, sondern darum,
die kommenden Generationen der
Menschen vor hohen Hypotheken zu
bewahren.DieserKurs der «Nachhaltig-
keit» klingt edel. Doch dieParteien sind
in Sachen Nachhaltigkeit selektiv. So
ist es in der Altersvorsorge Mode, den
kommenden Generationen möglichst
hohe Hypotheken anzuhängen. Die in
der AHV und der beruflichenVorsorge
derzeit diskutierten «Reformen» ver-
dienen diesen Namen nicht, da sie das
Übel der Umverteilung vonJung zu Alt
nicht an derWurzel packen. Die AHV
soll vor allem durch Mehreinnahmen
saniert werden, die schwergewichtig die
Jüngeren finanzieren,und in der zweiten
Säulestehtfür gewisse ältereJahrgänge
sogar ein Leistungsausbau zulasten der
Jüngeren zur Diskussion.
Rot kommtvor Grün
Wäre die Nachhaltigkeit in der Alters-
vorsorge ähnlich in Mode wie in der
Umweltpolitik, hätte zum Beispiel die
SP in diesemWahljahr schon wiederholt
versprochen, im Interesse der Genera-
tion engerechtigkeit für die Erhöhung
des Rentenalters und das Einfrieren
der laufenden Altersrenten zu kämp-
fen. Doch so etwas ist nicht einmal im
Ansatz passiert.Auch die grossen bür-
gerl ichenParteien wagen es in diesem
Wahljahr nicht, sich für eine nachhal-
tige Reform der Altersvorsorge stark-
zumachen; einzig die Grünliberalen
sind konsequent in Sachen Umwelt und
Altersvorsorge auf Nachhaltigkeitskurs.
Die Grünen, die sich besonders
gerne mit dem Etikett der «Nachhaltig-
keit» verkaufen,beharren derweil in der
Altersvorsorge wie derRest des Links-
blocks auf der bewährtenPolitik nach
dem Motto «Nach uns die Sintflut».Vor
einigenJahren hatten die Grünen so-
gar noch die Gewerkschaftsinitiative
«AHV plus» unterstützt, die einen wei-
terenAusbau der AHV-Leistungen zu-
lasten derJüngeren gebracht hätte, aber
2016 an der Urne scheiterte. Diese Hal-
tung der Grünen entspräche in der Um-
weltpolitik dem Sukkurs für eineVolks-
initiative zur Subventionierung von
Kohle, Benzin oder anderen stark um-
weltbelastenden Stoffen.
Wie erklärt sich diese Diskrepanz
zwischen Klimapolitik und Altersvor-
sorge?Wer grünePolitiker auf die selek-
tive Benutzung der Forderung nach
«Nachhaltigkeit» anspricht, wird mit
dem Verweis auf die «soziale»Kompo-
nente der Altersvorsorge belehrt.Kon-
kret heisst dies: BeiWidersprüchen zwi-
schen «grüner»Politik (Nachhaltigkeit)
und «roter» Politik (staatliche Umver-
teilung von oben nach unten) ist «rot»
weit wichtiger.In der Altersvorsorge
hängt die Umverteilung von oben nach
unten mit der Umverteilung vonJung zu
Alt zusammen.Die Linke will möglichst
viel von oben nach unten umverteilen
und nimmt die Belastung derJungen
bewusst in Kauf. In der Umweltpolitik
gibt es dagegenkeinen direkten Zusam-
menhang der Umverteilungskanäle von
oben nach unten und vonJung zu Alt.
Global contra national
Eine weitere Differenz betrifft die geo-
grafische Dimension. Die Schweizer
Klimadiskussion sei stark durchdie
internationale Debatte beeinflusst, sagt
Lukas Golder vomForschungsinstitut
GfS Bern. EinPendantzur 16-jährigen
schwedischen Umweltaktivistin Greta
Thunberg sucht man in der Altersvor-
sorge dagegen vergeblich.Viele reiche
Länder kämpfen zwar mit ähnlichen
demografischen Problemen, doch die
Vorsorgesysteme sind unterschiedlich,
jedesLand kann seine Probleme für sich
selber lösen,und eine internationaleKo-
ordination ist dafür nicht nötig.
Dies müsste eigentlich eine nachhal-
tige Sanierung der Altersvorsorge im
Vergleich zum Klimaproblem erleich-
tern, da die Gefahr desTrittbrettfah-
rens nicht besteht:Jedes Land, das sein
Vorsorgesystem saniert, hat selber den
vollen Nutzen davon. Doch die direkte
Demokratie der Schweiz tut sich schwer
damit, weil nachhaltigeReformen direkt
ans Portemonnaie der zahlenmässig
starken älteren Generationen gingen.
Der Politologe Lukas Golder ortet in
der Altersvorsorge einen starkenWi-
derstand gegen denVerzicht auf Privi-
legien in etablierten Sozialwerken. Pri-
vilegien sind Drogen: Droht derWeg-
fall,kommt es zumAufschrei.Dass viele
Renten der älteren Generationen sub-
ventioniert sind,ist zudem gut versteckt,
was Betroffenen und ihren Lobbyisten
erlaubt, sich selber und anderen vorzu-
gaukeln, dass man gar nicht subventio-
niert sei und die ganzeRente sauer ver-
dient habe. Beliebt ist auch die Floskel,
wonach der Arbeitsmarkt ein höheres
Rentenalter gar nicht verdauen würde.
Die Floskel ist zwar sachlich falsch,aber
für Heuchler genügt es, dass sie halb-
wegs plausibel klingt.
Es darf nichtweh tun
Auch eine strengere Klimapolitik
könnte ansPortemonnaie gehen, doch
die finanziellenFolgen erscheinen weni-
ger direkt und klar als bei derAltersvor-
sorge. Bei denkommendenParlaments-
wahlenkönnten Bürger deshalb vorder-
handrelativ billig ihr eigenes Klimage-
wissen beruhigen,indem sie Grünliberal
oder Grün wä hlen – und hoffen,dass die
Suppe dann nicht so heiss gegessen wie
gekocht wird. Eine Umfrage von GfS
Bern imAuftrag des «Blicks» von die-
sem Frühling zeigte ein Bild, das auch
bei anderenPolitikthemen gängig ist:
Am populärsten ist das, was nicht weh
zu tun scheint. ImFall der Klimapoli-
tik sind diesForschungsförderung so-
wie Subventionen für klimafreundliches
Verhalten; wer dieKosten dafür via
Steuererhöhung oder Sparübungen an
anderen Orten trägt, ist nicht sichtbar.
Immerhin sprachen sich in jener
Umfrage etwas mehr als 50% auch für
höhereAbgaben auf klimaschädlichem
Verhalten aus. Nicht mehrheitsfähig
war derweil der persönlicheVerzicht
etwa auf einAuto oderFlugreisen.Dies
gilt laut der GfS-Studie besonders stark
für dieJungen: «Überall dort, wo die
direkte Betroffenheit gross ist, fällt ein
individuellerVerzicht schwer,(Klima-)
Demonstrationen hin oder her.»
Wenn es um die Altersvorsorge geht, handeln SP und Grüne nachdem Motto «Nach uns die Sintflut». GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE
Beim Geld tickt die Romandie anders als der Rest der Schweiz
Westschweizer neigenlaut einer Studie weniger zum Sparenund haben einehöhere Wahrscheinlichkeit, sichzu verschulden
THOMAS FUSTER
Menschen sindkeine kühl kalkulieren-
den Maschinen.IhrVerhalten wird auch
geprägt von Herkunft,Kultur und Spra-
che. In der ökonomischenForschung
wurden solche «weichen» Faktoren
lange Zeit eher vernachlässigt.Das hat
sich in jüngererVergangenheitgeändert.
So zeigt sich auch in der Schweiz, dass
die Bevölkerung je nach Herkunft in
ökonomischenFragen unterschiedlich
tickt.Das kann – muss aber nicht – auch
kulturelle Gründe haben.
Zahlen des Bundesamtes für Sta-
tistik zeigen beispielsweise,dass
Westschweizer weniger sparen als die
Deutschschweizer. Personen aus der
französischsprechenden Schweiz – und
auch jene aus demTessin – sind zudem
stärker verschuldet als Leute im deut-
schen Sprachraum. Nunkönnteman
argumentieren, dass in der Deutsch-
schweiz schlicht mehr Geldvorhanden
sei und am Monatsende mehrBares
zum Sparen übrig bleibe. Die Erklä-
rung wäre also im unterschiedlichen
Wohlstand zu suchen.
Es gibt aber auch Erklärungen, die
auf der Einstellung zum Staat fussen.
So wird argumentiert, in der Deutsch-
schw eiz dominiere – anders als in der
lateinischen Schweiz – ein eher libera-
les Staatsverständnis. Deutschschweizer
stützten sich also stärker auf ihreeige-
nen Ressourcen ab und sparten tenden-
ziell mehr.Ein alternatives Narrativ be-
tont eine angeblich grössereUngeduld
in der lateinischen Schweiz. Dort sei
man weniger bereit,materielleWünsche
in die Zukunft zuverschieben.
KeinWert per se
Forscher der UniversitätFreiburg haben
nun einen alternativen Ansatz gewählt.
Sie gehen derFrage nach, ob die Men-
schen in den verschiedenen Sprach-
räumen der Schweiz aus kulturellen
Gründen eine andere Einstellung zum
Geld an denTag legen.Das vom Schwei-
zerischen Nationalfonds unterstützte
Projekt hat hierzu 1390 junge Männer
und Frauen im Alter von18 bis 30 Jah-
ren befragt.Thematisiert wurden die
mit Geld verbundenenWerte, das finan-
zielleVerhalten (z.B. die Sparneigung)
und dieVerschuldungssituation.
Die wichtigsten Ergebnisse wurden
vor kurzem in der Zeitschrift «Die
Volkswirtschaft» präsentiert. Es zeigt
sich, dass dieWahrnehmung des Gel-
des in der Schweiz grundsätzlichrecht
homogen ist. Geld wird primär als Mit-
tel wahrgenommen,um f rei zu sein und
das tun zukönnen,was man will.Hinge-
gen erhält die Meinung, dank Geld
mehr Macht zu haben, soziale Aner-
kennung zu erhalten oderFreunde zu
gewinnen, nur schwache Unterstützung.
Anders formuliert: Geld wird nur sel-
ten alsWert pe rsebetrachtet; das gilt
für das ganzeLand.
Gibt es somit garkeinen Röstigraben
beim Geld? Doch, ein solcher Graben
existiert laut den Forschern durch-
aus. Um dies zu zeigen, haben sie auf-
grund der Umfrageresultate drei do-
minante Einstellungen zu Geld ausge-
macht. Bei der ersten Einstellung ist
Geld vor allem mit Prestige und Macht
verbunden. Bei der zweiten Einstellung
steht das «guteVerwalten» des Geldes
im Fokus. Und im drittenFall domi-
niert eine «pragmatische Einstellung»;
Geld erscheint als Mittel zur Erreichung
diverser Zwecke.
Es zeigt sich, dassMänner,in der
Schweiz lebendeAusländer undPerso-
nen mit sehr hohem Einkommen das
Geld häufiger mit Prestige und Macht in
Verbindung bringen;Geld wird in die-
ser Gruppe auch als Mittel gesehen,
um sichRespekt und Status zu ver-
schaffen. Schweizer mit mittlerem Bil-
dungsstand betonen derweil vor allem
das «guteVerwalten», also eine seriöse
und besonnene Haltung. «Der bedeu-
tendsteParameter ist jedoch die Sprach-
region», schreiben dieAutoren.«Je nach
Landesteil sind die Einstellungen unter-
schi edlich verteilt.»
Nüchterne Deutschschweiz
Dabei zeichnet sich aber nicht jede
Sprachregion durch einejeweils typische
Einstellung aus.Vielmehr zeigt sich,dass
alle drei genannten Einstellungen in der
Westschweiz stärker ausgeprägt sind als
in den übrigenLandesteilen.Wie kann
dieses überraschende Ergebnis interpre-
tiert werden?Laut denForschern zeigt
das Resultat, dass in der deutschen und
der italienischen Schweiz ein «instru-
mentelleres» – mankönnte wohl auch
sagen:nüchterneres –Verhältniszu Geld
herrscht als in derWestschweiz.
Was heisst das? In derWestschweiz
wird Geld vergleichsweise stärker
auch mit sozialen Beziehungen oder
Machtverhältnissen in Beziehung ge-
bracht. In den anderen Sprachregionen
misst man dem Geld demgegenüber
einenehergeringensozialenodersymbo-
lischenWert bei.AusderForschungweiss
man nun, dass jede Einstellungauch ein
bestimmtesVerhalten begünstigt. Wird
Geld als Spiegel von Macht undPres-
tige gesehen,erhöht diesbeispielsweise
das Risiko, sich zu verschulden.
Die Studie bestätigtinder Tat, dass
die Westschweizer imVergleich mit den
Deutschschweizern nicht nur eine ge-
ringere Neigung zum Sparen aufweisen.
Zu beobachten istauch eine höhere
Wahrscheinlichkeit, sich zu verschul-
den, einen Leasingvertrag abzuschlies-
sen oder mitZahlungsverpflichtungen
in Rückstand zu geraten.