Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


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Unruhen statt Feiern


Peking zelebriert den 70. Jahresta g der Gründung der Volksrepublik – die Bevölkerung Hongkongs macht nich t mit


So haben sich die chinesischen


Machthaber den runden


Geburtstag derVolksrepublik


nicht vorgestellt: In Hongkong


kommt es erneut zu schweren


Zusammenstössen zwischen


der Polizei und Demonstranten.


MATTHIAS MÜLLER,HONGKONG


«Eins, zwei», skandiert die Menge immer


wieder auf Kantonesisch und deutet


mit Handbewegungen denRückzug an.


Ohne in Hektik zu verfallen, machen


die in Schwarz gekleideten, meist jun-


gen Demonstrantenkehrt. In derFerne


steigenWolken auf. «DiePolizei feuert


von der Brücke herab mitTränengas auf


die Menge», sagt der 26-jährige JC, der


seinen wahren Namen nicht preisgeben


will.Unweit von diesem Schauplatz ent-


fernt, muss dieFeuerwehr vor dem Ein-


gang einer Metrostation einFeuer lö-


schen.Auf einerWand steht in grossen


Lettern: «Wenn wir brennen, dann ver-


brennt ihr mit uns.» Ein paar Schritte


weiter zündenVermummte einen Geld-


automaten der vomFestland stammen-


den Bank of China an. Die Sprinkler-


anlage setzt umgehend ein.


Hongkong begeht so auf eine ganz

eigeneWeise den 70. Geburtstag der


Volksrepublik, den Peking mit viel


Prunk und einer riesigen Militärparade


feiert.In d er einstigen britischenKolo-


nie gibt es im Gegensatz zur chinesi-


schen Hauptstadt, wo alles fein orches-


triert undkontrolliert ist,diverse Brand-


herde. Besonders viele Demonstranten


machten sich auf HongKong Island vom


VictoriaPark in Richtung Central auf,


um zumVerbindungsbüro derKommu-


nistischenPartei Chinas vorzudringen.


Die Polizeisetztallesdaran, dies zu ver-


hindern. Es gibt einen Schwerverletz-


ten. EineKugel derPolizei hat einen


Demonstranten in der Brust getroffen.


Er wurde ins Spital eingeliefert.


Die Partei alsZielscheibe


Der Asphalt der mehrspurigen Hen-


nessyRoad, auf der sichTausende in


Richtung Central vorarbeiten, ist mit


Papierschnipseln undFotos mit dem


Konterfei des chinesischen Staats- und


Parteichefs Xi Jinping übersät. Die


Menge trampelt achtlos auf ihm herum


und bringt so ihreAbneigung zumAus-


druck. An denWänden sindAufkleber


zu sehen, auf denen in Anspielung auf


den Nationalsozialismus zu lesen ist:


«1949–2019. RIP Chinazi.»Auch mit


dem Nachnamen des starken Manns


in Peking werdenWortspielereien be-


trieben. So wird Xi in Anspielung an


den Führer zu «Xitler». Derweil wirft


der Demonstrant JC immer wieder be-


drucktesPapier in die Luft. «So geden-


ken wir unserer Vorfahren», erklärter.


«Mi t der Aktion wollen wir am 70. Ge-


burtstag derVolksrepublik zumAus-

druck bringen, dass wir dieKommunis-


tischePartei für bereits tot halten.»


JCs Eltern sind einst vor derPartei,


die inPeking ihre Errungenschaften fei-


ert,nach Hongkong geflohen.Mit der in


seinenAugen rassistischen Debatte, ob


manHongkongeroderChinesesei,weiss


er nichts anzufangen.«Ich fühle michals


Weltbürger», sagt der junge Mann, des-


senFreundininSüdkorealebt.«Sieweiss


nicht, was ichtreibe», betont er und lä-


chelt.Auch die Eltern hält er im Unkla-


ren.Mit demVater hatte er schon einige


Diskussionen über die sich seit Mona-

ten hinziehendenProteste. «Er macht

sich grosse Sorgen um dieWirtschaft»,

sagtJC.SeinVater hatGrunddazu,denn


Hongkongleidet un ter denFolgen des


amerikanisch-chinesischenHandelskon-


flikts und unter den Protesten. Im drit-


ten Quartal dürfte die einstige britische


Kolonie in eineRezession geraten sein.


JC machte bereits vor fünfJahren

bei der «Regenschirm-Bewegung» und


der Forderung nacheinem allgemeinen


Wahlrecht mit.Damals sei das Ende der


Demonstrationen absehbar gewesen,

weil man sich durch die Besetzung des


StadtviertelsCentralangreifbargemacht


habe. «Wir waren ein leichtes Ziel für die


Polizei», sagt JC. Fünf Jahre später sind


dieDemonstrantenflexiblerundschwie-


riger auszumachen. Sie organisieren sich


spontan über verschlüsselte Nachrich-

tendienste undWebsite-Foren. So gibt

es im Gegensatz zu 2014 an vielen Orten


der StadtAuseinandersetzungen mit der


Polizei.Ein schnellesEndeder Demons-


trationen erwartet JC denn auch nicht.


Unterdessen ruft die Menge immer

wieder die gleichenParolen. Eine junge


Frau hat eine für ihre schmächtigeFigur


auffallend eindringliche Stimme. Sie

schreit «F ree HongKong!», und die De-


monstranten in ihrer Nähe antworten

mit dem Schlachtruf«Re volution of our


time». Oft sind auch die Slogans «Fight


for freedom – stand with HongKong»


zu hören oder «Five demands – not one


less». Es ist offensichtlich, dass es nicht


reicht, dass RegierungschefinCarrie

Lam nach langem Zögern auf eineFor-


derung der Demonstranten eingegangen


ist:Anfang September zog sie dasAus-


lieferungsgesetzzurück,dasAnfangJuni


der Auslöser für die Demonstrationen

ge wesen war.


Nahkampf mit der Polizei


Ein junger Mann mit einerBaseball-

mütze und einem Gesichtsschutz hält

eine Fahne in die Höhe, auf der er zur


Revolution aufruft. «Erst wenn die

HongkongerRegierung alleunsere For-


derungen erfüllt hat, gebe ichRuhe»,

sagt er.JC ist etwas zurückhaltender.

«Mir würde es schonreichen, wenn wir


mehr Demokratie hätten und denRegie-


rungschef Hongkongs in geheimen und


freienWahlen bestimmen dürften.»


Derweil brandet unter den Demons-


tranten Applaus auf. Sie bilden eine

Gasse und jubeln Vermummten zu,

die Gasmasken tragen. Sie suchen die

direkteKonfrontation mit derPolizei,

werfen Steine und scheuen auch Hand-


gemenge und Prügeleien nicht. Unter

ihnen befinden sich auch zahlreiche

Frauen.«Sie gehen an dieFront,die vor-


hin diePolizei mitTränengas beschossen


hat», erklärt JC. «Wir schätzen sie alle

sehr, weil sie die schwierigeArbeit über-


nehmen.» JC selber ist vorsichtiger. Für


die Auseinandersetzung an derFront

fehle ihm der Mut, auch wenn er bereits


vor fünfJahren mitTränengas inKon-


takt gekommen sei. «Psychisch habe ich


mich daran gewöhnt, psychisch nicht»,

sagt er zum Abschied.


WeitererBericht, Seite 25


VermummteDemonstrantenfordern diechinesische Staatsmacht in Hongkong heraus,diese ant wortet mitTränengas. FELIPE DANA / AP


Xibeschwört inseiner Jubelrede die Einheit Chinas


Mue. Hongkong· In derRede von Chi-


nas Partei- und Staatschef Xi Jinping

zum 70. Geburtstag derVolksrepublik

stand eine Botschaft im Zentrum:Das

Land muss sich wiedervereinigen. Xi

sprach zur Nation amTor des Himm-

lischenFriedens (Tiananmen) und damit


genauan je nem Ort, von dem aus Mao


Zedong am1. Oktober1949 das «neue


China» ausgerufen hatte.


Mit Blick auf Hongkong und Macau,


die beiden Sonderverwaltungszonen,

sprach sich Xi für dasPrinzip «EinLand,


zwei Systeme» aus, das den beiden eins-


tigenKolonien weitgehendeAutono-

mie zusichert. Zudem versicherte Xi

demRest derWelt, dass sich China zu


einer friedlichen Entwicklung bekenne.


Er machte jedochkein Hehl daraus, dass


die Vereinigung desLandes vollendet

werden müsse.Nach demVerständnis

der Pekinger Machthaber fehlt noch

Taiwan, um den Prozess abzuschlies-

sen. Xi betonte, dass Mao mit derAus-


rufung derVolksrepublik China1949 ein


Jahrhundert der Erniedrigung und des

Elends beendet hatte. Darauf weist er in


seinenReden immer wieder hin.


Die chinesische Nation werde den

eingeschlagenenWeg weitergehen, pro-


klamierte derPartei- und Staatschef.

Daran werde siekeine Kraft hindern.

Xi spielte damit auf den Handelskon-

flikt mit denVereinigten Staaten an und


das AnsinnenWashingtons, den wirt-

schaftlichen und damit auch den militä-


rischen sowie den internationalenAuf-


stiegPekings zu behindern.


Anschliessend nahm Xi die Militär-

parade ab, die China auch dazu nutzte,


die Errungenschaften der vergangenen


Jahrzehnte zu demonstrieren. Bei den

erstenParaden nach der Gründung der


Volksrepublik wurden manche Kano-

nen noch mit Pferdekarren gezogen.In-


zwischen verfügt dasLand über Inter-

kontinentalrake ten, die mit atomaren

Mehrfachsprengköpfenbestückt sind

und jeden Ort in denVereinigten Staa-


ten angreifen können.


Offiziell feiert am1. Oktober zwar die


Volksrepublik Geburtstag, die Parade

zeigt jedocheinmal mehr das Selbstver-


ständnis derKommunistischenPartei.

Sie feiert sich selbst und suggeriert dem


Volk,dass derAufstieg desLandes ohne


sie nicht möglich gewesen wäre.


Korsikas Separatisten drohen mit Gewalt


Eine Gruppe Vermummter proklamier t die Rückkehr zum Unabhängigkeitskampf


NINA BELZ,PARIS


Sechs Männer mit dunklen Jacken


und vermummtem Gesicht, mindes-


tens einer von ihnen bewaffnet, stehen


in derDunkelheit an einemWaldrand.


Keiner spricht, als der Lichtkegel einer


Taschenlampe ihre Silhouetten abtas-


tet. Zweirecken kurz dieFaust in die


Luft.Auf derBanderole, die zweivon


ihnen halten, stehen vier Buchstaben:


FLNC. Journalisten der Zeitung «Corse


Matin» sind als einzige zu dem gehei-


men Treffen geladen worden, das in der


Nacht auf Dienstag in derRegion Cas-


tagniccia aufKorsika stattgefunden hat.


Sie sind es, die danach ein kurzesVideo


veröffentlichen und aus dem Communi-


qué zitieren,das dieVermummten ihnen


übergeben haben.


Die Verfasser behaupten, denFronte


di Liberazione Naziunale di a Corsica


(FLNC) wieder zum Leben erwecken


zu wollen.Eine Untergrundorganisation


mit diesem Namen hatte zwischen 1976


und 2014 rund 4500 Bombenanschläge


auf der Insel verübt. Die meisten da-

von richteten sich gegen Einrichtungen


des französischen Staates oder gegen

Ferienwohnungen. Allerdings wurden

dabei auch fünfPersonen getötet.


«ProgrammiertesAussterben»


2014 gab die Befreiungsfront bekannt,

ihreWaffen niederzulegen und den

Kampf für mehrAutonomie auf ande-


remWeg weiterverfolgen zu wollen.Seit


den letztenRegionalwahlen im Dezem-


ber 2017 hat eineKoalition aus Separa-


tistenund Nationalisten die Mehrheit

im Regionalparlament. Offiziell aufge-

löst hat sich der FLNC nie.


Die von der vermummtenTruppe

am Waldrand schriftlich gestelltenFor-


derungen sind denn auch so gut wie

deckungsgleich mit jenen, die der FLNC


schon früher erhobenhatte. Sie verlan-


gen unter anderem eine Stärkung des

Korsischen und einVerbot für Nicht-

korsen (das heisstFestlandfranzosen),

Immobilien auf der Insel zu erwerben.


Zudem sollen auswärtigeArbeitnehmer


durch Inselbewohner ersetzt und Quo-


tenfürTouristeneingeführtwerden.Ziel


sei es,Korsika und seine Bewohner vor


einem «programmiertenAussterben» zu


schützen.Schliesslichheisstes,manwolle


in historischerAnlehnung an den FLNC


keiner Person schaden, sondern habe es


lediglich auf Besitz abgesehen.


Erst im September hat die fürKor-

sika zuständige Ministerin inParis die

Forderungen der Regionalregierung

wieder einmal in Grenzen gewiesen.

Jean-GuyTalamoni,Separatist und Chef


der Assemblé de Corse, hatte Immobi-


lienbesitzern, die nicht seitmindestens


fünf Jahren auf der Insel wohnten, zu-

nächst mit Enteignung, dann mit mas-

siv höheren Steuern gedroht.Jacque-

line Gourault, Ministerin für territoria-


len Zusammenhalt,lehnte dasVorgehen


als verfassungswidrig ab.


Macronsharte Linie


Die korsischeRegionalregierung hat

der Zentralregierung unter Emmanuel

Macron bisherkeine Zugeständnisse

abringenkönnen. Seit einem ersten Be-


such auf der Insel Anfang 2018 hat Prä-


sident Macron sich nicht mehr mit den


Verantwortlichen ausgetauscht. Da-

mals hatte er klargemacht, dass er jeg-


licheForderung nach mehrAutono-

mie ablehnt. Nicht auszuschliessen, dass


der Auftritt der sechsVermummten

eine verzweifelteRückkehr zu härteren


Methoden ist. Die Antiterrorstaatsan-

waltschaft hat am Dienstag Ermittlun-

gen aufgenommen.


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