Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

10 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Meinung


Die Bundesregierung will
die Pendlerpauschale
erhöhen. Bei aller Kritik
am Klimapaket ist es
schön, dass die Große
Koalition sich für jenen Teil
der Bevölkerung einsetzt, der
den Laden am Laufen hält. Über die
Pendlerpauschale gibt es einen Teil des
Geldes zurück, das Arbeitnehmer aus-
geben müssen, um überhaupt Geld ver-
dienen zu können.
Ich möchte an dieser Stelle ein Lob
an die Berufspendler loswerden. Tag für
Tag quetschen sie sich in Regional züge,
quälen sich durch Staus. Elf Millionen
Deutsche brauchen mehr als eine halbe
Stunde zur Arbeit, sagt das Bundesinsti-
tut für Bevölkerungsforschung. Ein Gut-
teil der Wirtschaftskraft dürfte auf die
Bereitschaft dieser Menschen zurückge-
hen, jede Produktionsverlagerung, jede
Versetzung mitzumachen. Der Chef for-
dert Flexibilität? Stehen wir halt noch
mal 30 Minuten früher auf.
In der Politik haben die Pendler
nicht viele Freunde. Seit 15 Jahren liegt
die Pendlerpauschale bei 30 Cent pro
Kilometer. Mit Inflationsausgleich
müssten es längst mehr als 35 Cent
sein. Stattdessen hat die Regierung ver-
sucht, die Pauschale weitgehend abzu-

schaffen. Zum Glück schritt das Bun-
desverfassungsgericht ein.
Heute führt Grünenchef Robert
Habeck die Gegner der Pendlerpau-
schale an. Nachdem ihm während
eines ARD-Interviews zwar immerhin
erklärt werden konnte, dass nicht nur
Autobesitzer profitieren, sondern auch
Bahn- und Radfahrer und sogar Fuß-
gänger, richtet sich seine Kritik dage-
gen, einen Anreiz zu geben, möglichst
weite Distanzen zu fahren.
Treibt die Pendlerpauschale die
Menschen hinaus aufs Land? Ich habe
noch niemanden getroffen, der wegen
ein paar Euro Steuerersparnis aufs
Dorf gezogen ist. Man hört eher Stich-
worte wie »frische Luft«, »eigener Gar-
ten« und »mehr Platz für die Kinder«.
Auch Grünenwähler nehmen lange
Anfahrtszeiten in Kauf, weil die Ruhe
da draußen ja so himmlisch ist.
Ich glaube, dass die Pendlerpauscha-
le bei Politikern so unbeliebt ist, weil
sie keine große Lenkungswirkung hat.
Sie bestraft nicht, sie belohnt nicht, sie
nötigt dem Bürger kein Wohlverhalten
ab. Für ideologische Politik ist die
Pendlerpauschale einfach unergiebig.

An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher
und Markus Feldenkirchen im Wechsel.

Alexander NeubacherDie Gegendarstellung

Ein Herz für Pendler


So gesehen

Im Panikmodus


Christian Lindner bricht
das Schweigen.

Immer dieser Klimaschutz, alle
reden davon, und niemand mehr von
den Liberalen. »Die FDP liegt in der
Mitte der Gesellschaft«, hat Christian
Lindner im Interview der »Frankfur-
ter Allgemeinen« analysiert, und tat-
sächlich: Da liegt sie mit mauen
Umfragewerten von sechs bis acht
Prozent herum.
Ist denn niemand mehr vernünf-
tig? Lassen sich denn alle blenden
von den Grünen mit ihren »cremigen
Auftritten und Biothemen«? Nein,
es gibt noch andere, weiß der Partei-
chef. Er war auf der IAA und hat
gesehen, dass sich »viel mehr Men-
schen dort für das Auto interessiert

haben, statt dagegen zu demonstrie-
ren«. Er kennt die »schweigende
Mehrheit«. Weil die aber schweigt,
gibt Lindner ihr eine Stimme.
Und die klingt dann so: »Wir wer-
den den Planeten nicht retten, indem
wir einen Morgenthau-Plan für
Deutschland umsetzen und die Deut-
schen zu veganen Radfahrern
machen.« Für diese Polemik erntet
Lindner nun heftige Kritik: Schon
Joseph Goebbels habe propagandis-
tisch vom »Morgenthau-Plan«
gesprochen, wird ihm vorgehalten.
Lindner spreche wie ein Demagoge,
der jedes Maß verloren hat.
Tatsächlich muss man sich fragen,
wie es um unsere Debattenkultur
steht, wenn man liest, was sich Leute
anhören müssen, die sich doch nur
mit großem Engagement für ihr Her-
zensanliegen einsetzen, für ihre lieb
gewonnene Lebensart. Wäre nicht
etwas Nachsicht angebracht, wenn
ein Mensch berechtigte Angst um sei-
ne Zukunft hat und deshalb vielleicht
etwas übertreibt? Wo es Christian
Lindner in seiner berechtigten Sorge
um den Fortbestand der FDP doch
selbst zugibt: »Politik findet oft im
Panikmodus statt.«Stefan Kuzmany
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