Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

wie er genannt wird, Reformen ein und
erlaubte Frauen das Autofahren. Ande-
rerseits duldete er keine Kritik. Kha -
shoggi, der sich für mehr Demokratie im
Land aussprach, fürchtete, verhaftet zu
werden.
»Von da an las ich erst recht alles, was
er schrieb«, sagt Cengiz.
Khashoggi verfasste eine Kolumne in
der »Washington Post« und war ein gefrag-
ter Redner und Kommentator. Im Mai
2018 begegneten er und Cengiz sich zum
ersten Mal. Beide besuchten eine Konfe-
renz in Istanbul. »Wir standen am Büfett,
und plötzlich sah ich ihn aus dem Augen-
winkel«, erinnert sich Cengiz. »Den Mann,
dem ich so lange gefolgt war.«
Cengiz bat Khashoggi um ein kurzes In-
terview. Ihr Interesse, darauf besteht sie,
war damals rein akademischer Natur. »Ich
fand seine Ansichten klug, aber da war
nichts Persönliches«, sagt Cengiz. Sie spra-
chen 27 Minuten lang. Cengiz war so zu-
rückhaltend, dass sie Khashoggi nicht ein-
mal nach einer Visitenkarte fragte.
Doch am selben Tag erhielt sie eine
Nachricht von ihm. »Ich werde bald wie-
der in der Türkei sein, und ich möchte Sie
gern wiedersehen.«
Aus dem Austausch wurde eine Freund-
schaft. Bald telefonierten sie jede Nacht:
Wenn Khashoggi nach einem Arbeitstag
zurück in seine Wohnung kam, rief er Cen-
giz an. Cengiz war damals 36 Jahre alt –
Khashoggi fast 60. »Er war ein alter
Mann!«, sagt sie. »Ich dachte: Wie soll ich
das jemals meinen Eltern erklären?«
Aber sie hatten eine Verbindung, trotz
des Altersunterschieds. Cengiz, die schon
als Teenager Tolstoi und Dostojewski ge-
lesen hatte, liebte Bücher und interessierte
sich für internationale Politik. Khashoggi
suchte eine Gefährtin, die ihm ebenbürtig
war. »Wenn es ihm nur um mein Alter ge-
gangen wäre, hätte er sich eine andere
Frau ausgesucht«, sagt Cengiz.
Anfang August, wenige Wochen nach
ihrem ersten Treffen, bat Khashoggi da-
rum, Cengiz zur Frau nehmen zu dürfen.
»Mein Vater hat mich nur angestarrt, als
ich es ihm sagte«, erinnert sie sich. »Er un-
terstützte diese Ehe nicht. Aber er wollte
auch kein Hindernis sein.« Die einzige Be-
dingung: Cengiz dürfe nicht dauerhaft zu
Khashoggi in die USA ziehen.
Als Cengiz über diese Zeit des Kennen-
lernens spricht, wird sie ruhiger. Sie lächelt
wie ein verliebter Teenager, zeigt Fotos
von Khashoggi, die auf ihrem Handy ge-
speichert sind. Doch plötzlich verändert
sich ihr Gesichtsausdruck. Cengiz erstarrt,
bricht mitten im Satz ab. »Können wir bit-
te nach drinnen gehen?«, fragt sie.
Am Nebentisch haben zwei Männer
Platz genommen. »Aus Saudi-Arabien«,
flüstert Cengiz. Erschrocken flüchtet sie
ins Innere des Cafés.


Nach Khashoggis Tod verbreiten pro -
saudische Medien Gerüchte über Cengiz.
Sie sei eine türkische Agentin und habe Ver-
bindungen zu Islamisten. Sie habe eine Be-
ziehung zu einem Iraner gehabt. Teheran
gilt als Erzfeind Saudi-Arabiens. Cengiz be-
kam Personenschutz. »Früher habe ich die
Konflikte des Nahen Ostens nur studiert«,
sagt sie. »Jetzt stecke ich mittendrin.«
In der Nacht auf den 20. Oktober –
mehr als drei Wochen nach Khashoggis
Verschwinden – gab Riad bekannt, dass
der Journalist im Konsulat getötet worden
war. Cengiz las die Meldung am nächsten
Morgen, als sie zum Gebet aufstand. Sie
erinnert sich, wie sie ihr Handy anstarrte
und sich dann, von der Trauer überwältigt,
ins Bett warf.
Cengiz begann eine Therapie. Ein Psy-
chiater verschrieb ihr Antidepressiva. Als

die Schwere langsam wich, versuchte Cen-
giz, sich zu erinnern, wer sie vor Khashog-
gis Tod gewesen war. »Eine junge Frau, die
ihr Studium fortführen wollte.«
Sie schrieb sich an der Universität in Is-
tanbul ein, doch hielt es nur eine Woche
aus. »Es war, als würden die Wände auf
mich zukommen«, sagt sie.
Die ganze Stadt schien auf sie herein-
zubrechen. Istanbul war gefüllt mit Er -
innerungen: die Uferpromenade, an der
sie mit Khashoggi spazieren gegangen
war, die Restaurants, die sie besucht hat-
ten, das Hotel, in dem sie hatten heiraten
wollen.
Das alles ertrug Cengiz nicht mehr. Im
April 2019 zog sie nach London.
Der Radius ihres Lebens führt von ihrer
Dreizimmerwohnung über ihre Sprach-
schule zu einem palästinensisch-libanesi-
schen Restaurant, wo Cengiz manchmal
zu Mittag isst und mit den Kellnern Ara-
bisch spricht.

Sie könnte beschließen, nur noch dieses
eine Leben in London zu führen, als Ha-
tice, die Studentin, von der niemand ge-
nau weiß, was sie nach England getrieben
hat. Sie könnte den Journalisten absagen
und Khashoggis Foto, das noch immer
auf ihrem Bildschirm prangt, ersetzen.
»Aber mit jemandem zusammen zu
sein bedeutet, für ihn einzustehen«, sagt
Cengiz.
An einem Mittwoch im September ist
sie auf dem Weg zu einem Interview mit
dem britischen Sender Channel 4. Cengiz
ist so müde, dass sie den Englischunter-
richt am Morgen versäumt hat.
Trotzdem sitzt sie kurze Zeit später vor
drei Fernsehkameras und beantwortet Fra-
gen zu ihrem toten Verlobten. Der Repor-
ter, der sie interviewt, hat Cengiz schon
mehrfach getroffen. »Ich weiß nicht, ob
wir sie quälen oder ihr helfen«, sagt er vor
dem Interview.
Würde der Mord an ihrem Verlobten
verfolgt, würde sich Cengiz alldem nicht
aussetzen. Saudi-Arabien hat elf Männer
wegen des Mordes an Khashoggi vor Ge-
richt gestellt, fünf von ihnen könnten zum
Tode verurteilt werden. »Die wahren Ver-
antwortlichen kommen davon«, sagt sie.
Die Uno hat den Mord an Khashoggi
untersuchen lassen. Der Bericht, der im
Juni 2019 erschien, nennt nicht ausdrück-
lich, wer den Mord an Khashoggi in Auf-
trag gegeben hat. Aber er empfiehlt
Ermittlungen gegen hochrangige saudi-
arabische Beamte – einschließlich Kron-
prinz Mohammed bin Salman.
MbS gilt als jähzornig, möglicherweise
wollte er sich für Khashoggis kritische
Kommentare rächen. »Selbst wenn Jamals
Kolumne schlechte Presse für Saudi-Ara-
bien war – sein Tod war es noch viel
mehr«, sagt Cengiz.
Doch der Aufschrei verhallte rasch. Sau-
di-Arabien ist wegen seines Ölreichtums
zu bedeutend, um es auszugrenzen.
Um auf dieses Unrecht aufmerksam zu
machen, will Cengiz am 2. Oktober, dem
Todestag von Jamal Khashoggi, zum sau-
di-arabischen Konsulat in Istanbul zurück-
kehren. Cengiz möchte dort eine Rede hal-
ten, an jenem Ort, an dem sie vor einem
Jahr vergebens auf ihren Verlobten warte-
te. »Ich werde sagen: Damals war ich eine
Frau, die heiraten wollte. Heute stehe ich
hier als Teil einer Welt, die es nicht ge-
schafft hat, die Verantwortlichen zur Re-
chenschaft zu ziehen.«
Kürzlich hat Cengiz einen kleinen Schritt
in ihr normales Leben gemacht. Zum ers-
ten Mal nach Khashoggis Tod hat sie sich
ein Paar Schuhe bestellt; pink-orange
Sneakers mit profilierter Sohle. Sie hat
eine Karte dazugeschrieben, an sich selbst.
»Alles Gute zum Jahrestag, Hatice.«
Mail: [email protected]

100 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019

Ausland

Paar Khashoggi, Cengiz 2018
Verbindung trotz Altersunterschied
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