Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

M


anchmal taucht er einfach ab,
verschwindet in den Tiefen
des Meeres, mit einem Speer
in der Hand. Bis zu 17 Meter
unter der Wasseroberfläche jagt er dann
Fische, solange die Luft in seinen Lungen
reicht. Danach ruhe er in sich, fühle sich
unantastbar, sagt Kevin Mayer. Ein men-
taler Zustand – unbezahlbar für einen
Zehnkämpfer.
Mayer, 27, erzählt dies an einem frühen
Morgen Ende August an der französischen
Atlantikküste. Mit zerzaustem Haar und
noch etwas verschlafenem Blick sitzt er an
einem Picknicktisch in einem Pinienwald.
Er trägt eine kurze Hose und Badelatschen.
Ein nahe gelegener Parkplatz füllt sich
langsam mit Surfern. Die Wellen sollen
gut sein an diesem Morgen, deshalb ist
auch Mayer früh aufgestanden.
Er hat sechs Tage am Stück frei, eine
Seltenheit. Und wie so oft zieht es ihn
dann in die Natur. Das Meer, die Berge,
die Flüsse – hier sammelt der Zehnkämp-
fer Energie, um wieder in den Stadien die-
ser Welt neue Bestleistungen abzuliefern.
9126 Punkte. Seit vergangenem Septem-
ber ist dieser Weltrekord mit dem Franzo-
sen verbunden. Erst zwei Athleten vor ihm
haben es geschafft, die magische 9000-
Punkte-Marke zu knacken, der Amerika-
ner Ashton Eaton mit 9045 Punkten und
der Tscheche Roman Šebrle mit 9026
Punkten (siehe Grafik Seite 106).
Und Mayer sagt: »Ich habe das Gefühl,
dass ich erst am Anfang dessen stehe, was
ich leisten kann.« Seine Worte klingen
nicht überheblich, vielmehr so, als staunte
er über sich selbst.
Breite Schultern, ein starker Rumpf,
kräftige Beine. Kevin Mayer, geboren im
nordfranzösischen Argenteuil, ist der wohl
kompletteste Athlet aller Zeiten. Für sein
Talent und seine Leistung finden Konkur-
renten und Fachleute nur Superlative. »An
ihm kommt keiner vorbei«, attestierte
etwa der ehemalige Zehnkämpfer Frank
Busemann. Mayer liefere »unglaubliche
Leistungen«, sagte Eaton. Immer wieder
fällt dieses Wort: »Wahnsinn.«
Obwohl Mayer absolute Weltklasse ist,
eines ist er nicht: weltberühmt. Höchstens
in Frankreich erkennt ihn der eine oder
andere auf der Straße, anhand seiner Sta-
tur und der blonden Locken.
Dafür gibt es Gründe. Von Jahr zu Jahr
verliert die Leichtathletik an Bedeutung,
obwohl sie die Kernsportart der Olympi-
schen Spiele ist. Die öffentlichen Fernseh-
sender übertragen nur noch die großen
Wettbewerbe, wie derzeit die Weltmeis-
terschaft in Katar. Das sind zehn Tage im
Jahr. Die restliche Zeit dominiert der Fuß-
ball das Sportprogramm.
Und selbst jemand wie Mayer schafft es
nicht, dies zu ändern. Zumindest bislang
nicht. Dabei bringt er alles mit, was einen


Superstar ausmacht: Er ist jung, sieht gut
aus und ist extrem erfolgreich.
Mayer sagt, dass der Sprinter Usain Bolt
der Leichtathletik fehle: »Er war sehr hilf-
reich für unseren Sport. Denn insgesamt
liefern wir viel zu wenig Show ab. Wir
müssen weg davon, alles immer nur an der
Performance zu orientieren. Wir müssen
vielmehr Geschichten erzählen.«
So wie er es wenige Tage zuvor getan
hat, beim Diamond-League-Meeting der
Leichtathleten in Paris. Statt die Zuschauer
mit einem Zehnkampf zu überfrachten,
traten die Athleten für einen Dreikampf
an. Mayer lieferte dabei zwei persönliche
Bestleistungen: 17,08 Meter im Kugelsto-
ßen, 13,55 Sekunden über 110 Meter Hür-
den. Die Zuschauer waren begeistert. Sie
bekamen ein attraktives, dichtes Event,
das bei dem einen oder anderen vielleicht
auch mal die Lust auf einen Zehnkampf
weckt. So zumindest der Plan.
Für Kevin Mayer sind es die richtigen
Schritte, um seinen Sport wieder prominen-
ter zu machen. »Ich bin zuversichtlich, dass
andere Meetings bald nachziehen«, sagt er.
Die Geschichte des Zehnkämpfers Ke-
vin Mayer beginnt im Alter von 14 Jahren.
Seine Eltern sind Sportlehrer. Deshalb hat
er viel ausprobiert, darunter Tennis, Rugby
und Handball. Doch alles war ihm zu ein-
tönig. Er langweile sich schnell, sagt Mayer.
Beim Zehnkampf fühlte er sich heraus-
gefordert. »Der Schlüssel war, dass ich Leu-
te um mich hatte, die mein Potenzial er-
kannt und mir schnell zu Fortschritten ver-
holfen haben«, sagt er. Sein Trainer, sein
Physiotherapeut und sein Fitnesscoach
würden ihm helfen, das Beste aus sich he-
rauszuholen.
Mayer schlingt nun die Arme um seinen
Brustkorb. Die Sonne schafft es nicht
durch die Bäume. Ein kühler Wind weht
durch den Pinienwald. Sein Bruder Tho-
mas reicht ihm einen grünen Pullover. Der
29-Jährige begleitet ihn auf vielen Reisen,
als Manager und Freund.
Kevin Mayer denkt einen Moment lang
darüber nach, was ihn so gut macht. »Der
Sport ist meine Leidenschaft«, erklärt er
dann. Darüber hinaus habe er die nötige
Disziplin. »Ich habe mein ganzes Leben
dem Zehnkampf unterworfen.«
Er achtet auf ausreichend Schlaf, isst
nur einmal, maximal zweimal am Tag, Ge-
müse und Fleisch, trinkt dazu sechs Liter
Wasser. Alkohol? Partys? »Sehr, sehr sel-
ten.« Mayer lacht.
Seine Tage beginnen zwischen sieben
und acht Uhr. Um neun steht er im Fitness-
studio, dann geht er ins Stadion, übt sich
in zwei, drei Disziplinen, am Nachmittag
kommen noch mal zwei Stunden Fitness-
training dazu. Kaum Gewichte, dafür viel
aktives Stretchen.
»Ich versuche bei allem, meinen Körper
zu fordern und zugleich zu schützen«, sagt

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 105


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Zehnkämpfer Mayer
»Spezialist in allen Disziplinen«
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