Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Mayer. »Ich kann nicht zehnmal so viel
trainieren wie die Spezialisten. Deshalb
muss ich sehr effizient sein.«
Einen Großteil seines Trainings machen
deshalb auch Analysen aus. Ob Hürden-
lauf, Stabhochsprung oder Diskuswerfen,
»viele, viele Stunden«, sagt er, würde er
Videos von den Spezialisten in den Ein-
zeldisziplinen studieren. Auf der Suche
nach der perfekten Bewegung, die er dann
kopieren kann. Mayer lacht wieder. »Mein
Erfolg ist eigentlich nur geklaut.«
So oft wie möglich trainiert er auch mit
den besten Leichtathleten seines Landes,
holt sich Ratschläge. »Ich will kein Zehn-
kämpfer sein. Ich will ein Spezialist sein,
aber eben in zehn Disziplinen.«
Das ist eine gigantische Herausforde-
rung. Aber womöglich braucht Mayer ge-
nau die. Denn seit seinem Weltrekord vor
gut einem Jahr hat er ein Problem – und
das ist er selbst. Seit Ashton Eaton seine
Karriere beendete, gibt es keine wirkliche
Konkurrenz mehr für Mayer. Die Bestmar-
ken der deutschen Zehnkämpfer Niklas
Kaul, Kai Kazmirek oder Tim Nowak lie-
gen bei rund 8500 Punkten. Der Einzige,
der ihm gefährlich werden könnte, ist der
Kanadier Damian Warner – aber auch nur
dann, wenn sich Mayer verletzt oder patzt.


So wie bei der EM in Berlin im Sommer
2018: Mit drei ungültigen Versuchen im
Weitsprung hatte er sich dort um den na-
hezu sicheren Europameistertitel gebracht.
»Ich habe zu viel gewollt, die Medaille ver-
schenkt«, sagt er. »Dafür hätten mir ver-
mutlich 6,80 Meter gereicht. Aber ich woll-
te 8 Meter weit springen, schon da den
Weltrekord holen.« Der Ulmer Arthur Abe-
le gewann. Er ist verletzt, tritt in Doha nicht
an. »Danach war ich einen halben Tag lang
depressiv, aber dann ging es weiter«, sagt
Mayer. Sechs Wochen später erkämpfte er
sich den Weltrekord.
Mayers nächstes großes Ziel: Gold bei
Olympia in Tokio, das sei ein Kindheits-
traum. Seine größte Motivation im Alltag
ziehe er daraus, sich selbst zu bezwingen,
körperlich etwas zu empfinden, das so
noch nicht da gewesen sei. Die neue Di-
mension eines Gefühls.


Ein Zehnkampf bedeutet, sich zehnmal
zu fokussieren. »Ich habe die Fähigkeit,
einen Schalter umzulegen, und dann bin
ich da«, sagt Mayer über sich. Nichtsdes-
totrotz sei auch er manchmal aufgeregt,
zittere, wenn er an der Reihe sei. Doch
dann macht er es wie beim Speerfischen.
Er hält die Luft an, etwa eine Minute lang,
beruhigt damit seinen Herzschlag und die
flatternden Nerven. »So habe ich am Ende
den Weltrekord geholt.«
Bei jenem Wettkampf war für Mayer
fast alles perfekt gelaufen. Doch dann
standen die 1500 Meter an. »Meine Beine
waren so schwer, ich wusste nicht, wie
ich das durchstehen sollte. All das gepaart
mit der Angst, dass ich mich verletzen
könnte, dann den Rekord doch nicht
hätte.« Wie Mayer davon erzählt, hört es
sich an, als wäre es die schwerste Stunde
seiner Karriere gewesen, nicht sein größ-
ter Triumph.
Dabei wirkt im Stadion kaum jemand
so souverän wie Mayer. Er brüllt, dass
die Adern an seinem Hals heraustreten,
ballt die Fäuste. Darauf angesprochen, er-
klärt er: »Ich liebe es, in der Menge zu
per formen, aber eigentlich bin ich wäh-
rend eines Wettkampfs alles andere als
selbstbewusst.«
Mayer macht sich aber nicht nur viele
Gedanken, die seinen Sport betreffen. Die
Wissenschaft fasziniere ihn, sagt er, der
Klimawandel sorge ihn sehr. Aus politi-
schen Gründen reise er mit einem unguten
Gefühl nach Doha. »Was die humanitären
und die Frauenrechte dort angeht, finde
ich es eigentlich nicht vertretbar«, sagt er.
»Ich fühle mich deshalb total egoistisch
und schlecht. Andererseits ist es so, dass
ich an zwei Tagen im Jahr meine größte
Leidenschaft ausüben kann. Am Ende hat-
te ich nicht den Mut, es abzusagen.« Er
zuckt mit den Achseln, eine entschuldi-
gende Geste.
Und dann sind da noch die Erwartun-
gen der anderen, die nicht kleiner werden,
wenn man erst einmal der König der Ath-
leten geworden ist. »Als Favorit erwarten
die Leute von dir, dass du gewinnst, nicht
hinter deiner Bestleistung zurückbleibst.«
Und das verlange er natürlich auch von
sich: »Ich denke, ich kann meinen Welt -
rekord in Doha noch einmal brechen.«
Diesen auch selbst gemachten Druck
auszuhalten koste ihn oft den Schlaf. Dann
liege er da, und die Gedanken kreisten.
Wird der Druck zu groß, setzt er sich ans
Klavier, schnappt sich seine Gitarre oder
studiert die Sterne. »Immerzu geht es nur
um mich. Im Training, in den Gesprächen
mit meiner Familie, den Freunden, den
Medien«, sagt er, »im Universum bin ich
weniger als eine Ameise. Diese Perspekti-
ve einzunehmen ist sehr erleichternd.«
Antje Windmann

D


oha, Katar, 23.59 Uhr. Startschuss
für den Marathon der Frauen. In die
Nacht zwischen dem ersten und
zweiten Tag der Leichtathletik-Weltmeis-
terschaft haben die Organisatoren ein mehr
als zweistündiges Rennen gelegt. Die Läu-
ferinnen kämpfen um die ersten Medail-
len. Tagsüber hätte die Gefahr gedroht,
dass die Sportlerinnen in der Wüstenhitze
kollabieren.
Von diesem Wochenende an treten die
besten Leichtathleten der Welt gegen -
einander an. Das Stadion, das laut Hilfs-
organisationen unter Ausbeutung Tausen-
der Arbeiter gebaut worden ist, wird für
die WM künstlich heruntergekühlt. Einige
Wettbewerbe finden trotzdem erst nach
Mitternacht statt. Dabei hat der Interna-
tionale Leichtathletik-Verband IAAF das
Event sogar schon vom sonst üblichen Ter-
min im Juli auf den milderen Frühherbst
verschoben. Die Folge: Die WM läuft nun
in Konkurrenz zu den Spielen der Fußball -
bundes liga, der Champions League und
der American-Football-Saison.
Wie konnte es überhaupt so weit kom-
men, dass Katar, ein Land ohne Leichtath-
letikgeschichte und geeignete Wettkampf-
bedingungen, die WM ausrichten darf?
Große Sportereignisse sind seit je Er-
gebnisse eines vielschichtigen Interessen-
gemauschels. Auf der einen Seite stehen
vorwiegend autoritäre Staaten, die alles
dafür tun, ihr Image aufzupolieren – auf
der anderen Seite Funktionäre, die alles
dafür tun, sich ihre Abstimmungsmacht
vergolden zu lassen.
An der Spitze dieser Clique stand lange
der Senegalese Lamine Diack, 86, Politiker,
Funktionär, langjähriger IAAF-Präsident,
im November 2015 von der französischen
Justiz angeklagt, wohnhaft in Paris – und
unter Hausarrest. Ihm und seinem Sohn
Papa Massata Diack werden Korruption,
Geldwäsche und bandenmäßige Krimina-
lität vorgeworfen. Im Januar soll der Pro-
zess in Paris gegen sie beginnen, dabei wird
es wohl auch um die WM-Vergabe nach
Katar gehen.
Im Juni hat ein Untersuchungsrichter
Nasser Al-Khelaifi verhört, den einfluss-
reichsten Sportfunktionär Katars. Der
45-Jäh rige ist Minister in Katar und Präsi-
dent des Fußballvereins Paris Saint-Ger-

106 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019

Sport

Marathon um


Mitternacht


VerbändeWarum findet die
WM ausgerechnet in Katar statt?
Auch diesmal könnte
Korruption eine Rolle spielen.

Allroundsportler
Zehnkampfweltrekorde seit 1984

Daley Thompson

Dan O’Brien

Ashton Eaton

Kevin Mayer

Tomáš Dvořák

Roman Šebrle

Jürgen Hingsen

8847

8891

9039

9045

9126

8994

9026

8832

Großbritannien

USA

USA

Frankreich

Tschechien

Tschechien

Deutschland

1984

1992

2012

2015

2018

1999

2001

1984

Athlet Punkte

Quelle: IAAF
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