Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
109

Erziehung

»Beschimpft, gequält,


gedemütigt«


Die Münchner Pädagogin
Anke Elisabeth Ballmann,
50, leitet seit vielen Jahren
Fortbildungen für Erziehe-
rinnen und Erzieher. Am
Montag erscheint ihr Buch
über psychische Gewalt in
Kitas.

SPIEGEL:Frau Ballmann, Ihre Berichte
dürften für Entsetzen bei Eltern sorgen.
In vielen Kitas, behaupten Sie, würden
Kinder seelisch misshandelt. Ist das nicht
maßlos übertrieben?
Ballmann:Das hätte ich anfangs auch
gedacht. Ich war aber in den vergangenen
zehn Jahren in mehr als 500 Kitas, vor-
wiegend in Bayern. Ich habe dort Prüfun-
gen abgenommen oder Entwicklungs -
prozesse begleitet. Daneben hatte ich mit
Hunderten Erzieherinnen persönlichen
Kontakt im Rahmen von Fortbildungen.
Nach und nach ist mir dann klar gewor-
den: Dass Kinder in Kitas beschimpft,
gedemütigt und geradezu gequält werden,
ist keine Ausnahme. Es ist die Regel.
SPIEGEL:Was genau meinen Sie mit
Gewalt?
Ballmann:Wenn Kinder von Erzieherin-
nen am Stuhl festgebunden oder am Arm
herumgezerrt werden, dann ist die Gewalt
offensichtlich. Es ist aber auch erniedri-
gend, wenn ein Kind sich vor seiner Grup-
pe umziehen muss, weil es in die Hose
gemacht hat. Oder wenn es gezwungen

wird, seinem Tischnachbarn die Hand zu
geben, obwohl es sich vor dem Rotz ekelt,
der daran klebt. Oder wenn es mit einer
Unterhose auf dem Kopf in den Garten
gehen muss, weil es seine Kappe nicht fin-
den kann.
SPIEGEL:All das haben Sie erlebt?
Ballmann: Das meiste. Manches haben
mir Erzieherinnen auch während ihrer
Fortbildungen berichtet. Ich saß daneben,
als ein kleiner Junge einen Bogen Ton -
papier ganz nass geweint hat, weil er noch
nicht gut schneiden konnte. Die Erziehe-
rin wollte aber, dass er das lernt, und
begleitete seine Versuche mit einer Tirade
darüber, dass er so nicht in die Schule
könne, er würde schlechte Noten bekom-
men, er sei eben zu blöd und könne es
nicht. Ich war auch selbst dabei, als eine
Erzieherin ein sehr kleines Kind gefüttert
hat, das furchtbar geschrien hat. Jedes
Mal, wenn der Mund aufging, hat sie wie-
der einen Löffel hineingeschoben.
SPIEGEL:Sind Sie nicht eingeschritten?
Ballmann:In diesem Fall habe ich die lau-
fende Prüfung abgebrochen und gesagt,
dass das so nicht geht. Die Antwort war,
wie man es denn sonst machen solle, das
Kind müsse schließlich essen. Ich habe
das Buch geschrieben, weil ich das Gefühl
hatte, wenn ich zu diesen Erlebnissen
schweige, mache ich mich mitschuldig.
SPIEGEL:Die Kinder müssten so etwas
doch ihren Eltern berichten ...
Ballmann:Das tun einige auch. Aber die
ganz Kleinen können es noch nicht. Und
auch Vierjährige berichten oft zeitversetzt.
Andere wollen unbewusst ihre Eltern
schützen. Wieder anderen glauben die
Eltern nicht.

SPIEGEL:Können wir unsere Kinder noch
guten Gewissens in eine Kita geben?
Ballmann:Natürlich. Mir geht es nicht
darum, Kitas schlechtzumachen oder
Erzieherinnen an den Pranger zu stellen.
Wenn Sie sich als Eltern selbst wohlfühlen
in einer Einrichtung, wenn dort gelacht
und getobt wird, wenn auch die Erziehe-
rinnen untereinander mal Quatsch
machen, dann geht es meist auch den Kin-
dern gut. Wir müssen aber sensibler gegen-
über psychischer Gewalt werden. Sie kann
lebenslange Spuren hinterlassen.JKO

Anke Elisabeth Ballmann: »Seelenprügel. Was
Kindern in Kitas wirklich passiert und was wir
dagegen tun können«. Kösel; 288 Seiten; 20 Euro.

In seltener Allianz rechnen uns Umweltschützer und Marketing-
experten immer öfter vor, wie ökologisch Konsumgüter angeb-
lich sind. Plastik- oder Papiertüte? Glas- oder PET-Flasche?
Elektroauto oder Benziner? Flugreise oder Bahnfahrt? Und was
bringt ein neuer, stromsparender Kühlschrank wirklich? Ent-
scheidungshilfe gibt jeweils die Ökobilanz. Nun wird sogar fürs
Klosett mit Nachhaltigkeit geworben. Wer sich auf einem
modernen sogenannten Dusch-WC erleichtert, darf sich nicht
nur über einen warmen Massagestrahl freuen; zudem wärmt
die Klobrille den Hintern. Und es kommt noch besser: Die
Smart-Toi lette soll sogar umweltfreundlicher sein als herkömm -
liche WCs.
Zwar erfordert der Betrieb des Dusch-WCs ebenso Strom
wie die aufwendige Herstellung. Im Gegenzug senkt das
Hightech-Klo aber den Papierverbrauch. Allein in Deutschland
werden jedes Jahr 800 Millionen Kilogramm Toilettenpapier

verkauft. Was für eine Ersparnis, wenn jeder Bundesbürger ein
Dusch-WC hätte! Beim Toilettengang die Welt retten – kann das
wahr sein?
Wohl kaum. Ökobilanzen täuschen über die umweltfreund -
lichste aller Konsumvarianten hinweg: den Verzicht. Wer auf die
schönen Ökobilanzen der Firmen hereinfällt, betreibt eine Art
Greenwashing im eigenen Kopf. Mit Absolution nämlich lässt es
sich fortan umso ausgelassener konsumieren. Die Einspareffekte
umweltverträglicher Produkte lösen sich dabei in Wohlgefallen
auf, weil man schlicht mehr davon kauft. Experten sprechen vom
»Rebound-Effekt«. Am besten ist es für die Umwelt, wenn das
Produkt, das so ökologisch sein soll, gar nicht erst produziert wird.
Kurzum: Etwas nicht zu kaufen ist an Nachhaltigkeit nicht
zu überbieten. Das gilt für Autos, Handys, Computer, Plastiktüten
und eben auch für WCs: Die alte Kloschüssel hält mit Sicher-
heit noch ein paar Jahrzehnte durch. Philip Bethge

Einwurf

Weltrettung mit dem Ökoklo


Die beste Nachhaltigkeitsstrategie ist der Verzicht – das gilt jetzt sogar beim Toilettenkauf.

BURGER / PHANIE / YOUR PHOTO TODAY
Mädchen in Kita

HANNELORE KIRCHNER
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