Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

K


urz nach Beginn ihres Studiums
im niederländischen Leeuwar-
den traf sie ein Hexenschuss. Es
geschah, als sie beim Umzug die
Waschmaschine anhob. Der plötzliche
Schmerz im Rücken war so heftig, dass ihr
schwarz vor Augen wurde.
Das war vor zehn Jahren. Judith Diehl*
ist heute 32 alt. Sie raucht viel, am Hals
kann man sehen, wie sich die Wirbelsäule
unter ihrer Haut abzeichnet, so dünn ist sie.
Nach dem Bandscheibenvorfall, erzählt
Diehl, sei sie zu einem Orthopäden in
Deutschland gegangen, den sie von einer
früheren Behandlung kannte. Der Arzt
verschrieb ihr Tramadol-Tropfen. Dieses
Medikament ist ein sogenanntes Opioid,
ein Schmerzmittel, das im Körper an den
gleichen Rezeptoren andockt wie Morphin
oder Heroin. Seine Wirkung ist allerdings
weniger stark, deshalb fällt es nicht unter
das Betäubungsmittelgesetz. 64,2 Millio-
nen Tagesdosen wurden in Deutschland
im vergangenen Jahr ver ordnet.
Tramadol kann abhängig machen, wie
alle Opioide. Besonders bei Tropfen be-
steht diese Gefahr, weil sie den Wirkstoff
schnell ins Gehirn fluten lassen. »Nur für
kurze Zeit einnehmen«, riet ihr deshalb
der Orthopäde.
Judith Diehl merkte sofort, dass Trama-
dol anders war als gewöhnliche Schmerz-
mittel wie Acetylsalicylsäure oder Para -
cetamol. »Bei Tramadol fühlt man sich
super«, erzählt sie. »So super, dass man
irgendwie alles kann.«
Als die Frau von ihrem Orthopäden
keine Tropfen mehr verschrieben bekam,
holte sie sich ein Rezept bei einem
Schmerztherapeuten. Die empfohlenen
dreimal 20 Tropfen täglich, mit denen sie
anfing, halfen bald kaum noch. Sie stei -
gerte die Dosis auf 30 Tropfen, dann auf
40, 50, 70 und 80. Sie brauchte immer
mehr Tramadol, um die angenehme Wir-
kung, die sie so schätzte, zu erzielen.
Irgendwann, sagt sie, hielt die 100-Milli -
liter-Flasche, die anfangs für einen ganzen
Monat reichte, weniger als zehn Tage.
Im zweiten Jahr ihres Studiums wurde
ihr klar: Mit den Schmerzen, die sie immer
noch hatte, hatte ihr Tramadol-Verbrauch
kaum noch etwas zu tun.
Für Diehl wurde es immer schwerer,
an ausreichend Tramadol zu kommen. Vie-
le Mediziner wollten ihr kein Rezept mehr
ausstellen, also betrieb sie Ȁrzte-Hop-
ping«, immer auf der Suche nach jeman-
dem, der ihr das Mittel doch noch ver-
schaffte – bis sie niemanden mehr fand.
Die Frau hätte sich Tramadol auf ille -
galem Weg besorgen können, etwa bei
Straßendealern. Das Medikament gehört
zu den am häufigsten beschlagnahmten
Opioi den auf dem Schwarzmarkt. Laut ak-


  • Name geändert.


tuellem Europäischen Drogenbericht wur-
den 2017 fast 119 Millionen Tabletten in
Europa sichergestellt.
Doch Diehl ging nicht zum Dealer, son-
dern fing an zu trinken. Der Alkohol be-
täubte die Symptome des Schmerzmittel-
entzugs. Aus ein, zwei Gläsern Wein am
Abend wurde hochprozentiger Alkohol,
literweise.
Am Ende war Judith Diehl schwer de-
pressiv und körperlich ein Wrack. Eines
Abends leerte sie ihren Medikamenten-
schrank und spülte den gesamten Inhalt
mit einer Flasche Wodka hinunter.
Sie wollte nur noch sterben.
Der Fall zeigt in krasser Weise, wohin
Schmerzmittelmissbrauch führen kann.
Laut aktuellem Epide-
miologischen Suchtsur-
vey nehmen schätzungs-
weise 1,9 Millionen Deut-
sche zwischen 16 und 64
Jahren täglich schmerz-
stillende Medikamente
ein, meist rezeptfreie Prä -
parate wie Acetylsalicyl-
säure, Diclofenac und
Ibuprofen, deren Ver-
kauf zwischen 2008 und
2017 von rund 30 Mil -
lionen auf mehr als
50 Millionen Packungen
pro Jahr stieg.
Im Mai warnte ein Be-
richt der OECD davor,
dass auch in Teilen Eu -
ropas eine Opioidkrise
wie in den Vereinigten
Staaten drohen könnte,
wo Millionen Menschen
diese Medikamente miss-
bräuchlich einnehmen.
2016 überstieg dort die
Zahl der Opioidtoten
(42 249), die an einer
Überdosis starben, erst-
mals die Zahl der Stra-
ßenverkehrstoten.
Auch in Schweden,
Norwegen, England, Ir-
land und Wales, so der
OECD- Bericht, seien die
Todeszahlen durch Opioide zwischen
2011 und 2016 gestiegen. Doch auch in
Deutschland werden diese Wirkstoffe in
großer Menge eingenommen.
Die soeben vorgestellten Zahlen sind
besorgniserregend. Wie sich aus dem die-
se Woche vorgestellten Arzneiverord-
nungs-Report ergibt, wurden 2018 ins -
gesamt 422 Millionen Tagesdosen Opioid -
analgetika verordnet.
»Der neue Arzneiverordnungs-Report
zeigt eindeutig, dass die Schmerzbehand-
lung in Deutschland nicht den gültigen
Leitlinien folgt«, urteilt der Heidelberger
Pharmakologe Ulrich Schwabe, der den

Bericht herausgegeben hat. Die Behand-
lung der Patienten sei zu sehr beeinflusst
vom Marketing der Pharmaindustrie, kri-
tisiert Schwabe. Dies führe zu unnötigen
Kosten, gefährlichen Nebenwirkungen –
und mehr Abhängigen.
In den Neunzigerjahren begann sich
die Einstellung der Ärzte zu den Opioi-
den grundlegend zu verändern. Wurde
vor 30 Jahren häufig sogar bei Krebs -
patienten im Endstadium an diesen hoch-
wirksamen Schmerzmitteln gespart, was
sicher ein Fehler war, haben sich die
Verschreibungen allein zwischen 2000
und 2018 mehr als verdoppelt. Inzwi-
schen werden rund 80 Prozent der Opioi-
de an Patienten verschrieben, die nicht
an einem fortgeschritte-
nen Tumor leiden.
Eine folgenschwere
Entwicklung. Denn bei
chronischen Schmerzen,
etwa am Rücken, die
nicht auf eine Krebser-
krankung zurückzufüh-
ren sind, ist es meist ein
komplexes Zusammen-
spiel aus biologischen
und psychosozialen Fak-
toren, das die Menschen
krank macht. Opioide
helfen da oft nicht beson-
ders gut. So spricht Stu-
dien zufolge nur rund
ein Drittel bis die Hälfte
der chronischen Rücken-
schmerz- und Arthrose-
patienten bei einer Lang-
zeittherapie auf diese
Medikamente an.
Ein direkter Vergleich
mit anderen Schmerz -
mitteln bei chronischen
Rücken-, Hüft- und Knie-
schmerzen zeigt: Die ver-
meintlich stärkeren Opioi-
de bringen den Patienten
im Durchschnitt nicht
mehr Linderung.
»Opioide sind bei
chronischen Schmerzen
nicht die erste Wahl«,
sagt Frank Petzke, Geschäftsfeldleiter
Schmerzmedizin an der Universitätsme-
dizin Göttingen. »Wenn man sie ein-
setzt, sollte man darauf achten, dass der
Patient wirklich mehr Nutzen als Scha-
den davon hat.«
Einige Ärzte fordern nach den verhee-
renden Erfahrungen aus den USA inzwi-
schen, bei chronischen Schmerzen mög-
lichst ganz auf Opioide zu verzichten.
Johannes Lutz, Chefarzt des Zentrums für
interdisziplinäre Schmerztherapie in Bad
Berka, setzt auf eine psychosoziale Be-
handlung, die sogenannte interdisziplinäre
multimodale Schmerztherapie: viel Bewe-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 111

Opioidanalgetika

Schmerzstiller
In Deutschland verschriebene
Tagesdosen, in Mio.

Fast 60 % des Verordnungsvolumens
von Opioidanalgetika entfielen 2018
auf nur zwei schwach wirksame
Opioidanalgetika, darunter Tramadol.

Quelle: Arzneiverordnungs-Reporte

422

271

2004 2018

Nicht opioide Analgetika

242

127

2004 2018

+56%


+91%

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