Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

gung, gezielte Gespräche, Entspannungs-
übungen, Ablenkung und Lebensverände-
rung – immer mit dem Ziel, zu lernen, mit
dem Schmerz zu leben und ihm aktiv et-
was entgegenzusetzen.
In einer Vergleichsstudie ist der Medi-
ziner zu einem erstaunlich klaren Befund
gekommen: Jene Patienten, die ihre Opioi-
de absetzten, hatten schon kurze Zeit spä-
ter weniger Schmerzen, weniger Angst
und waren weniger depressiv als solche
Patienten, die diese Mittel weiter einnah-
men. »Früher als Anästhesist war ich ein
Fan von Opiaten«, gibt Lutz zu. »Aber
dann musste ich feststellen, dass die Situa-
tion bei chronischen Schmerzpatienten
völlig anders ist.«
Häufig sind es aber die Patienten
selbst, die von den Ärzten verlangen, ihre
Schmerzen möglichst schnell mit irgend-
welchen Mitteln zu beseitigen – und die
Mediziner machen mit. »Unser Problem«,
sagt Annette Becker, Allgemeinärztin aus
Wettenberg und Professorin für Allge-
meinmedizin an der Philipps-Universität
Marburg, »ist, dass wir immer denken,
Schmerzen müssten auf null gebracht wer-
den.« Viele Ärzte würden die Schmerz-
therapie als eine Art Kampf sehen – und
Opioide als »starke Waffe« oder »Pfeile
im Köcher«, wie eine Marburger Studie
zeigte.
Auch die Pharmaindustrie hat es ge-
schickt verstanden, die Idee, der Schmerz
müsse vollständig beseitigt werden, in
den Köpfen von Ärzten und Patienten
zu verankern. Die Firma Mundipharma
beispielsweise sponserte Aktionen wie
das »Schmerzfreie Krankenhaus« oder
das »Ak tionsbündnis Schmerzfreie Stadt
Münster«.
Christoph Stein, Direktor des Arbeits-
bereichs Experimentelle Anästhesie an
der Berliner Charité, hält die dadurch
transportierte Botschaft für »hochgefähr-
lich«: »Schmerzfrei kann für chronische
Schmerzpatienten nicht das Therapieziel
sein.« Mundipharma sagte in einer Stel-
lungnahme, Ziel der Projekte sei es ge -
wesen, »Wissens- und Versorgungslücken
an den Schnittstellen zu erkennen und
zu schließen«.
Doch es gibt noch weitere Forschungs-
projekte, die die Sorge erwecken, es kön-
ne sich um subtiles Marketing handeln.
Das Epilepsie-Medikament Pregabalin
beispielsweise hilft gegen so genannte
neuropathische Schmerzen, die durch
Nervenschädigungen verursacht werden,
etwa bei einer Gürtelrose. Der Hersteller
Pfizer unterstützte die Entwicklung eines
Schmerzfragebogens, mit dessen Hilfe
Ärzte eine »neuropathische Schmerzkom-
ponente« zum Beispiel auch bei Patienten
mit der Volkskrankheit chronischer Rü-
ckenschmerz erkennen sollten. Seit der
Zulassung vor 15 Jahren, so der Arznei-


verordnungs-Report, stiegen die Verord-
nungszahlen an.
Pfizer sagt in einer Stellungnahme, die
Firma habe keinen Einfluss auf die inhalt-
liche Entwicklung des Fragebogens genom-
men; das Programm gebe zudem keine
Therapieempfehlungen.
Dabei warnte schon die Arzneimittel-
kommission der deutschen Ärzteschaft
2011 davor, dass Pregabalin möglicherwei-
se abhängig machen könne. Von Drogen-

abhängigen wird Pregabalin genutzt, um
sich eine zusätzliche euphorisierende Wir-
kung zu verschaffen.
Vor allem aber bei den Opioiden wurde
lange unterschätzt, wie groß die Sucht -
gefahr ist. Jahrelang vertraten Ärzte und
Pharmakonzerne das Dogma, Schmerz -
patienten könnten von diesen Mitteln gar
nicht abhängig werden. Wegen der ver-
harmlosenden Vermarktung der Opioide
musste der US-Konzern Purdue hohe
Strafzahlungen leisten und hat inzwischen
Insolvenz beantragt.
Als Beleg für die angebliche Unbedenk-
lichkeit wurde in der wissenschaftlichen
Literatur oft nur eine einzige, elf Zeilen
lange und inzwischen fast 40 Jahre alte
Veröffentlichung aus dem »New England
Journal of Medicine« zitiert, in der be-
hauptet wurde, von knapp 12 000 mit
Opioiden behandelten Krankenhauspa-
tienten hätten laut einer Beobachtungsstu-
die nur vier Betroffene eine Medikamen-
tensucht entwickelt. Erst 2017 räumte das
medizinische Fachmagazin ein, die uralte
Arbeit habe in den USA entscheidend zum
sorglosen Umgang mit den Opioiden bei-
getragen. »Die Elf-Zeilen- Notiz hat durch-
aus auch deutsche Ärzte beeinflusst«, sagt
Anästhesist Stein.
Die Wahrheit ist: Wie häufig Opioid -
patienten tatsächlich eine Sucht ent wi -
ckeln, ist in medizinischen Studien bislang
kaum untersucht worden. Eine der weni-
gen durchgeführten Berechnungen ergab,
dass Opioidmissbrauch und -abhängigkeit
während einer Langzeittherapie chroni-
scher nicht tumorbedingter Schmerzen bei
3,27 Prozent der Patienten vorkommen.
Im Fall von Judith Diehl besteht kein
Zweifel, dass die Opioide sie an den Rand
des Todes gebracht haben. Ihr Suizidver-
such scheiterte nur deshalb, weil ihr Kör-
per so sehr an die Medikamente und den
Alkohol gewöhnt waren, dass die Dosis
sie nicht umbrachte. Ihre Eltern sorgten
dafür, dass sie umgehend in eine Entzugs-
klinik eingeliefert wurde.
Seit fast drei Jahren, erzählt Judith
Diehl, sei sie jetzt trocken und nehme auch
keine Opioide mehr. Derzeit lässt sie sich
zur Kauffrau im Groß- und Einzelhandel
umschulen. Vor Kurzem hat sie eine Selbst-
hilfegruppe gegründet.
»Ich glaube«, sagt Diehl, »es ist wirklich
ein Problem, dass viele Betroffene eine Me-
dikamentenabhängigkeit gar nicht als Sucht
sehen. Das Mittel hat der Arzt verschrieben.
Also muss ja alles richtig so sein.«
Alexander Epp, Veronika Hackenbroch

112 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Opioidopfer Diehl
Am Ende wollte sie nur noch sterben

Animation
Wie Schmerzmittel
im Körper wirken
spiegel.de/sp402019schmerzmittel
oder in der App DER SPIEGEL

Wissenschaft

Gelindertes Leid


Tramadol (Opioid)


Rückenmark

Schmerzsignal

Opioidrezeptor

Nervenendigungen

Hemmung der
Schmerzleitung

bindet an Opioidrezeptoren
im Gehirn sowie Rückenmark
und verstärkt die
Glückshormonfreisetzung.

hemmt die Bildung
schmerzverstärkender
Substanzen.

Schmerzsignale
werden unterdrückt.

Ibuprofen (Nichtopioid)


ALEXANDER EPP / DER SPIEGEL
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