Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
Latif, 64, leitet die For-
schungseinheit Mari -
time Meteorologie am
Geomar Helmholtz-
Zentrum für Ozeanfor-
schung in Kiel.

SPIEGEL:Herr Latif, der diese Woche vor-
gestellte Sonderbericht des Weltklimarates
sagt vermehrte Hitzewellen in den Meeren
voraus. Wie kommt es dazu?
Latif:Die Ozeane nehmen viel Wärme aus
der Atmosphäre auf. 90 Prozent der durch
Treibhausgase bedingten Wärme sind bis-
lang in die Meere gewandert, bis in 2000
Meter Tiefe. Deshalb messen wir dort un-
ten häufiger Hitzewellen. Es sind doppelt
so viele wie noch vor 35 Jahren, und ihre
Zahl wird weiter steigen.
SPIEGEL:Was bedeutet das für die Öko-
systeme unter Wasser?
Latif: Wir beobachten zum Beispiel immer
häufiger die gefürchtete Korallenbleiche.
Der Report warnt davor, dass selbst bei
einer Erwärmung um nur 1,5 Grad Celsius
tropische Korallenriffe schwer geschädigt
werden – bis hin zu ihrem Untergang.
SPIEGEL:Dazu trägt auch die zunehmen-
de Versauerung der Ozeane bei. Wie
kommt es dazu?
Latif:Die Meere nehmen Kohlendioxid in
großen Mengen aus der Atmosphäre auf –
ungefähr ein Viertel dessen, was die
Menschheit derzeit ausstößt. Das Wasser
wird dadurch saurer, sein pH-Wert sinkt.
Das ist ein weiterer Sargnagel für die ma-
rinen Ökosysteme. Viele Lebewesen – vor
allem solche mit Skeletten und Schalen
aus Kalk – tun sich dann schwer. Die meis-
ten von ihnen stehen am Anfang der Nah-
rungskette: Muscheln, kleine Krebse, da-
runter der enorm wichtige Krill. Wenn die-
se Organismen verschwinden, wird das
gravierende Folgen für alle Meeresbewoh-
ner haben. Selbst wenn sich die Meere gar
nicht erwärmen würden: Allein die Ver-
sauerung wäre ein guter Grund, möglichst
bald kein CO
²
mehr auszustoßen.
SPIEGEL:Gegen den Anstieg des Meeres-
spiegels kann der Mensch sich ja immerhin
noch schützen, indem er zum Beispiel die
Deiche erhöht. Gibt es ähnliche Abhilfe
gegen die Versauerung?
Latif:Das sehe ich nicht, jedenfalls nicht
großflächig. Aber auch ein höherer Was-
serstand wirft erhebliche Probleme auf.
Obwohl der Meeresspiegel in den letzten


100 Jahren erst um durchschnittlich rund
20 Zentimeter angestiegen ist, leiden be-
reits sehr viele Regionen darunter – und
nicht nur die tropischen Inseln. Denken
Sie an die Ostküste der USA. Die Leute in
Miami wissen oft nicht mehr, wie sie zur
Arbeit kommen sollen, weil andauernd ir-
gendwelche Straßen überflutet sind.
SPIEGEL:Wie stark könnte aus heutiger
Sicht der Meeresspiegel ansteigen?
Latif:Maximal um mehr als einen Meter
bis zum Ende des Jahrhunderts, wenn alles
so weiterläuft wie bisher. Aber es könnten
auch anderthalb Meter oder mehr sein.
Viel hängt vom Verhalten der gewaltigen
Eisschilde auf dem Festland ab, auf Grön-

land und in der Antarktis. Diese kilome-
terdicken Eispanzer verstehen wir noch
nicht gut genug. Das sind dynamische
Systeme, die unter ihrem eigenen Gewicht
zerfließen. Die äußeren Eismassen schwim -
men teilweise vor der Küste auf dem Meer
auf. Dieses sogenannte Schelf eis hält die
dahinterliegenden Gletscherströme zu-
rück, die langsam zum Meer hin drängen.
Wenn es aber von unten antaut und ab-
bricht, können große Teile des Inlandseises
nachrutschen. Dann würde in relativ kur-
zer Zeit der Meeresspiegel stark ansteigen.
Das wäre nicht das erste Mal in der Erd -
geschichte.
SPIEGEL:Wann ist das schon geschehen?
Latif:Mehrmals nach der letzten Eiszeit.
Vor rund 20 000 Jahren lag der Meeres-
spiegel um etwa 120 Meter niedriger als

heute. Der Anstieg auf das heutige Niveau
vollzog sich nicht gleichmäßig, sondern
in Schüben – immer dann, wenn große
Bruchstücke ins Meer glitten.
SPIEGEL:Kann das heute auch passieren?
Latif:Das ist die große Frage. Falls es so
weit kommt, könnte der Wasserspiegel
binnen eines Jahrhunderts um bis zu zwei
Meter ansteigen.
SPIEGEL: Was bedeutet eine Erhöhung des
Meeresspiegels für Deutschlands Küsten?
Latif:Einen Meter Anstieg können wir
vielleicht auffangen, indem wir die Deiche
aufstocken – höher geht es aber nicht.
Dann wären große Landflächen verloren.
SPIEGEL:Wird sich das Klima erholen,
wenn die Menschheit eines Tages keine
Treibhausgase mehr in die Luft bläst?
Latif:Nur langsam. Wir kriegen das CO
²
ja nicht mehr so schnell aus der Atmosphä-
re. Der bedeutendste Abfluss ist das Meer.
Das Gas wird in den oberen Wasserschich-
ten aufgenommen, aber von dort gelangt
es nur mit großer Verzögerung hinab in
die Tiefe. Es gibt zu wenig Austausch zwi-
schen den warmen, oberflächennahen

Schichten und der kalten Tiefsee darunter.
Deshalb wird es Jahrtausende dauern, bis
sich die CO
²
-Konzentration in der Atmo-
sphäre normalisiert hat – und das auch nur
um den Preis der weiteren Versauerung
des Meerwassers.
SPIEGEL:Was sollte die Politik jetzt tun?
Latif:Wir haben schon viel Zeit verloren.
Deshalb werden wir nicht umhinkommen,
das Treibhausgas technisch aus der Luft
zu entfernen. Man muss das CO
²
als Roh-
stoff begreifen und damit etwas Vernünf-
tiges anstellen. Pilotprojekte gibt es schon.
Die Lufthansa zum Beispiel will ein Ver-
fahren entwickeln, aus CO
²
synthetische
Kraftstoffe herzustellen. Das ist die Rich-
tung, die wir einschlagen müssen.
Interview: Manfred Dworschak

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W. MINICH / DPA

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Gletscherschmelze in Norwegen: »Sargnagel für marine Ökosysteme«

»Viel Zeit verloren«


KlimaDer Meteorologe Mojib Latif erklärt, wie die globale
Erwärmung auf die Ozeane wirkt – und wodurch der
Anstieg des Meeresspiegels außer Kontrolle geraten könnte.
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