Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
121

Elke SchmitterBesser weiß ich es nicht

Kein Vergleich


Um zu illustrieren, was ein
Mensch vermag – ein einzel-
ner, noch dazu ohne Macht,
Geld oder Würden –, genügt
ein Name, noch dazu ein
Vorname: Greta. Ein gutes
Jahr, und aus einer schwedi-
schen Schülerin ist ein Engel des Welt-
gewissens geworden. Dabei sprechen
wir über Aufmerksamkeit, auch Reso-
nanz; das Handeln, das sogenannte
Klimapaket der Bundesregierung zum
Beispiel ist davon nicht genug berührt.
Und die indigenen Völker im Amazo-
nasgebiet kämpfen nach wie vor, unter
mäßiger Anteilnahme der Weltöffent-
lichkeit, für ihr genügsames Überleben.
Vor 79 Jahren, im September 1940,
ließ sich der polnische Untergrund-
kämpfer Witold Pilecki unter einem
Tarnnamen verhaften, um herauszufin-
den, was in Auschwitz, damals noch
politisches Straflager, vor sich ging.
Während der zweieinhalb Jahre, die er
dort überlebte, protokollierte er Folter
und Tod; auch den Aufbau und effi -
zienten Betrieb des Vernichtungslagers
Auschwitz-Birkenau. Pilecki wollte
einen Aufstand im Lager mit einem
Angriff des polnischen Widerstands
koordinieren, aber seine Leute draußen
reagierten nicht. Er floh im April 1943,
um die Welt zu informieren. Pilecki
scheiterte nicht als Einziger daran, die
entscheidenden Personen zu erschüt-
tern; Berichte von Zeugen erschienen
seit 1942 auch in der Presse, hatten
aber, wie bekannt, kaum unmittelbare
Folgen. Die Bekämpfung des Holocaust
wurde nicht Kriegsziel der Alliierten.
Wissen, Begreifen, Handeln, das
ist eine logische, aber keine automati-
sche Verkettung; sie ist nicht einmal
die Regel. Im nun eröffneten Berliner
Pilecki-Institut kann man eine Aus -
stellung zu Pilecki besuchen. Der katho -
lische Offizier kämpfte ab Kriegs ende
im Untergrund gegen die sowjetische
Besatzung und wurde im März 1948
nach Folter und einem Schauprozess
wegen »Spionage« hingerichtet. Sein
Biograf, der britische Journalist
Jack Fairweather, stieß auf Pileckis
Geschichte, nachdem er aus dem Krieg
im Irak und in Afghanistan berichtet
hatte und sich damit herumschlug, aus
dem gerade Erlebten irgendeinen Sinn
zu destillieren. Je länger er forschte,
um so rätselhafter wurde ihm, wie und
warum Pilecki scheiterte.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Nils Minkmar im Wechsel.

Fotografie

»Bilder im Schwarm«


Die Kunsthistorikerin Kerstin Schank -
weiler, 43, hat ein Buch über Bildproteste
geschrieben. Darin geht es um die revo -
lutionäre Macht von Bildern und Videos
im Zeitalter von sozialen Medien.

SPIEGEL:Wieso leben wir in einer Ära
der Bildproteste?
Schankweiler:Die Allgegenwart der
Handykamera, die zum vielleicht wich-
tigsten Protestwerkzeug avanciert ist, hat
zu einer neuen Form des Bildaktivismus
geführt. Mein Buch legt den Schwer-
punkt auf Fotos und Handyvideos, die als
Bildzeugnisse mit enormer politischer
Sprengkraft in Umlauf gebracht werden.
SPIEGEL:Wie entwickelt sich diese
Sprengkraft?
Schankweiler:Bilder verbinden Men-
schen zu Affektgemeinschaften und ver-
mitteln eine geteilte Gegenwärtigkeit,
Bewegtheit und Aufregung. Außerdem
vernetzen sich nicht nur Menschen, son-
dern auch Bilder werden immer stärker
durch soziale Netzwerke vernetzt und ste-
hen nicht mehr als Einzelbilder oder Bil-
derserien, sondern als Bildnetzwerke da.
SPIEGEL:Protestikonen, wie das Bild
des nackten Mädchens aus Vietnam, gibt
es doch schon länger.
Schankweiler:Ja, aber heute werden
Ikonen des Protests im Netz geprägt.
Politische Bewegungen als auch Bilder
funktionieren allerdings heute im
Schwarm – oft ohne Anführer und sehr
kleinteilig –, sodass sie nur noch im Ver-
hältnis zueinander wahrnehmbar sind.

Das führt dazu, dass das Einzelbild keine
große Relevanz mehr hat. Die Ära der
singulären Medienikonen, wie in der Zeit
des Fotojournalismus, ist zu Ende.
SPIEGEL:Gibt es auch eine negative
Seite von Bildprotesten?
Schankweiler:Bildproteste sind
politisch ambivalent. Sie können
sich auch gegen die Personen rich-
ten, die die Bilder in Umlauf gebracht
haben, und werden außerdem von allen
politischen Lagern eingesetzt.
SPIEGEL:Meinen Sie, in Ländern wie
Iran, wo die Pressefreiheit eingeschränkt
ist, haben Bildproteste eine Chance?
Schankweiler:Gerade in repressiven
Staaten ist die Möglichkeit, Bilder über
soziale Netzwerke zu teilen, ein wichti-
ges Instrument. Digitalisierte Protest -
formate, wie zum Beispiel Selfie-Proteste,
haben besonders in Ländern Konjunktur,
in denen das öffentliche Demonstrieren
im Stadtraum verboten ist. Menschen
posten Bilder dann aus ihrem heimischen
Wohnzimmer und können so Protest -
bewegungen mit anderen Mitteln aufrecht-
erhalten. RED

Bücher

Therapeutisches Schreiben


 Als Jim Sams eines Morgens nach
unruhigen Träumen aufwacht, findet er
sich in ein riesiges Wesen verwandelt.
Klingt irgendwie bekannt? Der englische
Schriftsteller Ian McEwan hat sich von
Franz Kafka inspirieren lassen. »The
Cockroach« heißt das Buch, es erscheint
in diesen Tagen in Großbritannien,
und es ist als satirischer Kommentar
McEwans zum Brexit zu lesen. Die Ver-
wandlung ereignet sich in dem Buch
allerdings – anders als bei Kafka – vom
Tier zum Menschen: Das riesige Wesen
war am Tag zuvor noch
eine harmlose Kakerlake, die
Angst hatte, von Demonstranten
in der Downing Street zertrampelt
zu werden, die sich an Polizei -
stiefeln vorbei in ein Wohnhaus
flüchtete, bis zum zweiten Stock
krabbelte und dort unter ein Kis-

sen kroch. Am nächsten Morgen erwacht
es als Jim Sams, als Premierminister von
England. Nach Lektüre eines ersten Teils
von »The Cockroach« erscheint die
Konstruktion des Roman als gewagt und
etwas angestrengt. Doch beim Verfassen
dieses Buchs wird McEwan womöglich
weniger an seine Leser gedacht haben als
an sich selbst. Der politisch interessierte
Schriftsteller zeigte sich bei einer Begeg-
nung im April in London geradezu ver-
zweifelt angesichts des Brexits: »Das gan-
ze Drama bricht mir das Herz.« Manche
Passagen von »The Cockroach« lesen
sich so, als ob das Schreiben für
McEwan eine erleichternde Wirkung
gehabt haben könnte. Lustig ist zum Bei-
spiel das Erschrecken Jim Sams’, als er
zum ersten Mal sein Gesicht im Spie-
gel sieht, »das auf einem dicken, rosi-
gen Halsstängel wackelte«. »Die
Kakerlake« erscheint Ende Novem-
ber auf Deutsch bei Diogenes. CLV

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