Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
Kultur

W


ie wirkmächtig eine Bewegung
ist, zeigt sich meist daran, ob der
Kapitalismus auf sie reagiert. Und
er reagiert zurzeit deutlich: Die Sport -
artikelfirma Nike hat in ihrem Londoner
Flagship-Store Platz für dicke Schau -
fensterpuppen freigeräumt; die Frauen -
zeitschrift »Cosmopolitan« hat das XXL-
Model Tess Holliday in Badekleidung aufs
Cover gehievt; die Rasierermarke »Gillette


Jürgen Martschukat: »Das Zeitalter der Fitness. Wie
der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wur-
de«. S. Fischer; 352 Seiten; 25 Euro.


Venus« wirbt mit der adipösen Influence-
rin Anna O’Brien.
Und so könnte man leicht auf die Idee
kommen, der Historiker Jürgen Martschu-
kat hechle in seinem neuen Buch dem Zeit-
geist hinterher, so wie es der Natur eines
Historikers entspricht. »Wir leben im Zeit-
alter der Fitness«, behauptet Martschukat.
Leben wir nicht eher im Zeitalter der
Fatness?
Seit einigen Jahren schon wettern Akti-
vistinnen in den sozialen Netzwerken
gegen Fat Shaming, die Diskriminierung
Dicker, sie setzen sich ein für Body Positi-

vity, also die Überzeugung, dass jeder Kör-
per schön ist. »Es gibt tatsächlich Anzei-
chen dafür, dass das Zeitalter der Fitness
so langsam seinen Zenit erreicht«, räumt
Martschukat ein.
Aber es ist eben ein Zenit.
Ein Blick in die Statistik des DSSV,
des Arbeitgeberverbands der deutschen
Fitnesswirtschaft: 2014 waren etwa neun
Millionen Deutsche Mitglied in einem
Fitnessstudio, 2016 zehn Millionen, 2018
elf Millionen – ein jährliches Wachstum
von rund 5 Prozent. Jeder fünfte Deutsche
zwischen 15 und 65 besucht heute eines
der 9300 Studios im Land, ihr Jahres -
umsatz: 5,3 Milliarden Euro.
Es sind verrückte Zahlen, die noch ver-
rückter klingen, wenn man sich klarmacht,
welches Vernunftsprinzip ihnen zugrunde
liegt. Anders als Fußballern, Basketbal-
lern, Tennisspielern geht es Fitnesssport-
lern nicht um Spiel, Spaß, Spannung.
»Wer Fitnesstraining betreibt, will keine
Medaille gewinnen«, erklärt Martschukat.
Wer Fitnesstraining betreibt, tritt gegen
sich selbst an, die Trophäe: ein trainierter
Körper.
Martschukat selbst ist der beste Beleg
seiner These, er sieht aus wie die aske -
tische Version von Richard David Precht.
Die Haare sind lang wie bei dem Philoso-
phen, aber die Gesichtszüge kantiger, die
Arme sehnig. Im vergangenen Jahr ist er
6000 Kilometer Rad gefahren, ein ambi-
tionierter Fitnesssportler, der mit Brust-
gurt unterwegs ist, um seine Pulswerte auf-
zuzeichnen.
Selftracking nennt sich das, ein Trend,
dem immer mehr Menschen folgen. Selbst-
vertrauen ist gut für einen Sportler, Selbst-
kontrolle ist besser.
Unter Fitness versteht Martschukat ne-
ben Krafttraining an Geräten auch Jogging,
Nordic Walking, Gymnastik und alle ande -
ren freizeitsportlichen Aktivitäten, deren
primäres Ziel es ist, die Leistungsfähigkeit
des Körpers zu steigern. Sie alle haben in
den vergangenen Jahrzehnten einen Boom
erlebt.
1970 starteten beim ersten New-York-
Marathon gerade mal 126 Männer und
eine Frau. Der Berlin-Marathon erlebte
seine Premiere sogar erst 1974, damals mit
286 Teilnehmern. Dieses Jahr werden in
New York 50 000 Menschen laufen, in
Berlin an diesem Wochenende werden es
mehr als 45 000 sein.
Folgt man Martschukat, dann fiel der
Startschuss fürs Zeitalter der Fitness in
den Siebzigerjahren, parallel zum Start-
schuss fürs Zeitalter des Neoliberalismus.
Die Siebzigerjahre brachten die Ölkrise
und mit ihr das Ende des Nachkriegs-
booms, die fetten Jahre waren erst einmal
vorbei. Die Achtziger brachten »Rambo«
und einen Boom der Fitnessstudios.
Rocky und Rambo, beide gespielt von

130 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Rambo würde CrossFit


machen


KörperbilderDer Historiker Jürgen Martschukat untersucht das »Zeit alter


der Fitness«. Die Trophäe des Sportlers heute: der trainierte Körper.


STEVEN PASTON / PICTURE ALLIANCE
Cristiano-Ronaldo-Werbefigur: EMS ist Sport für die Optimierungsgesellschaft
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