Der Spiegel - 28.09.2019

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DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 133


Kultur

S


elten wirkten die Räume in einem Film so muffig und
die Decken so niedrig wie hier. Christian Schwochows
Kinoadaption von Siegfried Lenz’ Roman »Deutsch-
stunde« verbreitet Tristesse. Selbst das Meer bringt keine
Hoffnung, sondern den Tod. Immer wieder schwemmt es
tote Tiere an. Wenn die Figuren am Strand bis zum Horizont
schauen, kommen sie dem Zuschauer vor wie Gefangene,
die gegen die Wand ihrer Zelle starren.
Der Roman, 1968 erschienen, ist eines der meistgelesenen
Werke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur und klas-
sische Schullektüre. Seit Jahren gibt es um das Buch eine

Debatte, weil Lenz darin einen Maler, den er dem Expressio-
nisten Emil Nolde nachempfunden hat, zum Opfer der Nazis
macht. Lenz hat damit das Nolde-Bild mitgeprägt. Der Maler
war allerdings Antisemit und überzeugter Nationalsozialist.
»Deutschstunde« erzählt die Geschichte von Siggi Jepsen,
der im nördlichsten Zipfel Schleswig-Holsteins aufwächst
und nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Anstalt für schwer
erziehbare Jugendliche kommt, weil er Bilder des Malers
Max Ludwig Nansen entwendet hat.
Siggi soll eine Strafarbeit schreiben, Thema: die Freuden
der Pflicht. Er füllt Seite um Seite, Band für Band, er verfasst
ein Konvolut über sich, seine Familie, die Gegend, aus der
er stammt, und die Zeit, in der er aufgewachsen ist.
Er wird zum Berserker der Pflicht, der seine Aufgabe zig-
mal übererfüllt, der all die Menschen beschämen will, die er
in der Zeit des »Dritten Reiches« in ihrem sturen, herzlosen
Gehorsam erlebt hat, vor allem seinen Vater, einen Dorf -
polizisten. In seiner Zelle blickt Siggi, im Film von Levi Eisen -

blätter und Tom Gronau gespielt, mit bisweilen durchaus
hochmütiger Ironie zurück auf die Welt seiner Kindheit.
Wie das Buch spielt der Film auf zwei Zeitebenen, Anfang
der Fünfzigerjahre, als Siggi eingesperrt ist, und rund zehn
Jahre vorher. Doch wo Lenz ironisch wird, neigt Schwochow
zu angestrengtem Ernst. Gleich zu Beginn richtet er den Blick
auf eine Tafel, auf die mit weißer Kreide »Die Freuden der
Pflicht« geschrieben wird. Die Kamera verweilt auf diesem
Bild ein paar Augenblicke länger als nötig. Schon bald ahnt
der Zuschauer, warum. Die Verfilmung ist ein protestantisches
Exerzitium, aus den Freuden der Pflicht ist die Pflicht zur
Freudlosigkeit geworden.
Dabei ist Lenz’ Roman ein ausschweifendes Werk voller
Aberwitz. Gerade die Enge der Zelle lässt Siggis Bewusst-
seinsstrom wild mäandern und treibt seine Fantasie zu Hö-
henflügen. Er beschreibt eine Möwenattacke mit kaum zu
bändigender Lust an der dramatischen und poetischen Über-
treibung, lässt Federn wie »ein Schnee aus Daunen« ein gan-
zes Tal zwischen den Dünen füllen.
Auch Schwochow lässt die Möwen angreifen, bleibt dabei
aber im Schlick stecken. Er meidet die fast surrealen Momen-
te in Lenz’ Roman und gibt der Einbildungskraft kaum Raum
zur Entfaltung. Er zeigt eine karge, strenge Welt in kargen,
strengen Einstellungen. Selbst die Bilder, die Nansen malt,
seine Farbexplosionen, wirken nicht wie Akte der Befreiung.
Vielleicht liegt dies daran, dass Schwo-
chow zur Figur des Malers in unentschlos-
sener Halbdistanz verharrt. Der Regisseur,
der seit dem Film »Novemberkind« und
der Serie »Bad Banks« zu Recht als einer
der besten in Deutschland gilt, erzeugt
kaum Momente, in denen bei Nansen (To-
bias Moretti) so etwas wie Leidenschaft
für seine Kunst zu spüren ist.
Ein Nazi, dessen Bilder auf einmal als
»entartet« gelten – das hätte doch eine
aufregende, zerrissene Filmfigur sein kön-
nen. Doch Schwochow (und seine Mutter
Heide, die das Drehbuch geschrieben
hat) reduziert ihn weitgehend auf seine
Opfer rolle. Im Roman ist Nansen ein
Mann, der weiß, dass er gebildeter und
intel ligenter ist als die Menschen um ihn
herum. Moretti könnte die Süffisanz des
Malers vermutlich besser spielen als die
meisten anderen Schauspieler – aber hier
tut er es nicht.
Stattdessen lässt er den Maler mehr
und mehr an der Pflichtversessenheit des
Dorfpolizisten Jepsen (Ulrich Noethen) verzweifeln, der
ihn überwacht und seine Bilder konfisziert. Monoton und
mit wachsender Verbissenheit fordert Jepsen immer und
immer wieder, dass der Pflicht Genüge zu leisten sei, selbst
dann noch, als er am Ende des Krieges auf verlorenem
Posten steht.
In einer frühen Szene des Films sieht man Jepsen, wie er
seinen Sohn Siggi zur Strafe verprügelt. Dann sitzt er am
Bett des Jungen, streicht ihm über den Kopf und sagt, er wer-
de schon noch einen brauchbaren Menschen aus ihm machen.
Von diesen ambivalenten Momenten hat der Film viel zu we-
nige, und zum Ende wird er immer eindimensionaler.
Schwochows Bilder haben die Tendenz, symbolisch zu wir-
ken: eine schwingende Kinderschaukel, ein Raum voller toter
Tiere, die Siggi gesammelt hat, der Abdruck, den ein abge-
hängtes Bild an einer Wand hinterlassen hat – alles scheint
mit Bedeutung aufgeladen zu sein. »Deutschstunde« ist ein
Film, der von seiner Last fast erdrückt wird.Lars-Olav Beier

Angestrengter


Ernst


FilmkritikLässt sich Siegfried Lenz’ Roman -
klassiker »Deutschstunde« ins Kino
bringen? Christian Schwochow hat es versucht.

GEORGES PAULY / WILD BUNCH
Darsteller Eisenblätter, Noethen: Auch unter freiem Himmel gefangen

Kinostart: 3. Oktober
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