Der Spiegel - 28.09.2019

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DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 135


Nachrufe


Jacques Chirac, 86
Er ist bis zuletzt ein Rätsel geblieben. Politisch hat der eins-
tige französische Präsident (1995 bis 2007) nahezu alle
Positionen des demokratischen Spektrums mindestens ein-
mal eingenommen. Es wurde viel darüber philosophiert,
was Jacques Chirac nun eigentlich war: rechts oder links?
Rechts war seine Politik, als er noch Premierminister war,
rechts waren viele seiner Wahlkämpfe. Links waren sein
ausgeprägtes soziales Pflichtgefühl, seine Skepsis gegen-
über Teilen von Frankreichs Eliten und seine habituelle
Nähe zur Arbeiterkultur. Seine kulturellen Interessen pass-
ten so gar nicht in den französischen Mainstream, weder
zum bürgerlich-gaullistischen seines Lagers noch zu dem
der Linken. Ihm ist es zu verdanken, dass in Paris mit dem
Musée du quai Branly ein Ort für außereuropäische Kunst
und Kulturen geschaffen wurde. Er wollte die keltische, die
gallische Seele Frankreichs erkennen und bewahren. Hier-
zu passt die Geschichte von Chirac als Heiler: Einen
Freund soll er durch Handauflegen aus dem Koma geholt
haben. Sein Großvater sei »ein bisschen Hexer gewesen«,
kommentierte er.
Chiracs Fähigkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit gewaltige
Mengen an Nahrung zu sich zu nehmen, war legendär. Zwi-
schen Frühstück und Mittagessen stand Baguette mit Pâté
auf dem Speiseplan, und zwar ein ganzes. Sein Stoffwechsel
verlange danach, kommentierte er launig. Legendär ist auch
die Zahl seiner außerehelichen Beziehungen. Seine Ehefrau
Bernadette sagte dazu: »Die Frauen kamen und gingen im
Galopp.« Bei aller Virtuosität in der Selbstdarstellung und
der politischen Taktik unterliefen ihm auch krasse Fehler. So
einer war die Wiederaufnahme der Nukleartests im Pazifik –
ein Flop, der das Land politisch blamierte. Ohne Not löste
er 1997 die Nationalversammlung auf, ließ neu wählen – und
verspielte seine Mehrheit. Es gelang ihm stets, die extreme
Rechte auf Distanz zu halten und aus dem Kreis der akzep-
tablen Koali tionspartner zu verbannen, zugleich wurde
er mit seinen Lügen, Tricks und leeren Versprechen für viele
Franzosen zum Symbol eines diskreditierten politischen
Systems. Die Jahre seiner Amtszeit waren vom Stillstand
geprägt. Drei Verdienste bleiben: sein Eintreten für Europa
auch in Zeiten, als das in seinem Lager unpopulär war, sein
Nein zum amerikanisch geführten Angriffskrieg auf den Irak
und sein offizielles Bekenntnis zu Frankreichs Mitschuld an
der Deportation der französischen Juden im Zweiten Welt-
krieg. Jacques Chirac starb am 26. September in Paris.NM

Sigmund Jähn, 82
Sieben Tage, 20 Stunden
und 49 Minuten im Spät-
sommer 1978 haben sein
Leben geprägt. In dieser
Zeit umkreiste der Oberst-
leutnant der Nationalen
Volksarmee der DDR ins -
gesamt 125-mal die Erde –
als erster Deutscher im
All. Sigmund Jähn, im Vogt-
land geborener Sohn eines
Sägewerkarbeiters und
einer Hausfrau, war zusam-
men mit dem Russen Wale-
rij Bykowski im Rahmen
der sowjetischen Mission
Sojus 31 in den Weltraum
geflogen. Auf der Raum -
station Saljut 6 arbeitete er
an wissenschaftlichen Expe-
rimenten, produzierte aber
auch schöne Bilder. So feier-

te man eine Puppenhoch-
zeit mit dem ostdeutschen
Sandmännchen und dem
sowjetischen Maskottchen
Mascha. Nach seiner Rück-
kehr wurde der stille und
bescheidene Jähn von der
DDR-Staats- und Partei -
führung gefeiert. Doch im
Gegensatz zu anderen Wür-
denträgern war er im Volk
tatsächlich beliebt. »Sig-
mund Jähn – einer von
uns!« war nicht nur ein Pro-
pagandaslogan. Jähn wäre
gern ein zweites Mal ge -
flogen. Das scheiterte aber
daran, dass die Sowjets
Westgeld forderten. Nach
dem Ende der DDR arbei -
tete er als Berater für deut-
sche und europäische
Raumfahrer in Russland.
Zuletzt begleitete er Esa-
Astronaut Alexander Gerst
zu seinen beiden Starts.
Sigmund Jähn starb am


  1. September im branden-
    burgischen Strausberg. CHS


Günter Kunert, 90
Er war der wohl heiterste
Schwarzseher unserer Zeit.
Zu Hause im schleswig-
holsteinischen Kaisborstel,
in seinem alten Schulhaus
zwischen Katzen und altem
Kinderspielzeug, empfing
der Dichter und Schrift -
steller Besucher meist
scherz bereit und lustig.
Doch dass unsere Welt in
rasender Geschwindigkeit
auf den Untergang zurast,
war Günter Kunert lange
schon bewusst. Erderwär-
mung, Umweltverschmut-
zung – er sah da keine Hoff-
nung. Kunert schrieb und
schrieb, vor allem unzählige
Gedichte, Prosaskizzen,
kurze Leuchtfeuer. Nicht
gegenden Untergang. Der
kommt ohnehin. Sondern
trotzdem. Er kam 1929 in
Berlin auf die Welt, als Jude
wurde ihm die weiterfüh-
rende Schule verboten, spä-
ter studierte er kurz Grafik
und Mode, brach das Stu -
dium ab. Zunächst SED-
Mitglied, verließ er in der
Folge der Ausbürgerung
Wolf Biermanns die DDR
und ließ sich in Kaisborstel
nieder. Im vergangenen
Jahr entdeckte er im Keller
noch einen vergessenen
frühen Roman. »Die zweite
Frau« erschien in diesem
Februar, mehr als 40 Jahre
nach der Niederschrift,
und wurde ein Bestseller.
Bis zum Schluss schrieb er
an seinem »Big Book«:
Betrachtungen, Erinnerun-

gen, Kommentare. Insge-
samt 7000 Seiten, so
schätzte er vor Kurzem.
Da kommt also noch etwas
auf uns zu. Günter Kunert
starb am 21. September in
Kaisborstel. VW

CHARLES PLATIAU / REUTERS

BRIGITTE FRIEDRICH / SZ PHOTO / LAIF

ADN / AP
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