Der Spiegel - 28.09.2019

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Cass Sunstein, 65, ist Juraprofessor an
der Harvard-Universität und einer der
füh renden Verfassungsexperten der USA.
Er beobachtete unter anderem das Amts -
enthebungs verfahren gegen Bill Clinton
1999 und arbeitete von 2009 bis 2012
unter Barack Obama im Weißen Haus.


SPIEGEL:Herr Sunstein, erwarten Sie
ein formelles Amtsenthebungsverfahren
gegen Donald Trump?
Sunstein:Die Vorwürfe im Ukraine -
skandal sind sehr besorgniserregend.
Noch sind die Fakten nicht geklärt, aber
es besteht sicher eine legitime Grundlage
für die Voruntersuchung, die die Demo-
kraten eingeleitet haben. Ob die dann
tatsächlich in ein Amtsenthebungsverfah-
ren mündet, lässt sich noch nicht sagen,
dazu ist es zu früh.
SPIEGEL:Es wäre das erste Amtsent -
hebungsverfahren gegen einen US-
Präsi denten seit dem Verfahren gegen
Bill Clinton 1999.
Sunstein:Schon damals war das Land
pola risiert. Viele Leute hassten Clinton
und wollten ihn aus dem Amt entfernen,
und heute hassen viele Leute Trump
und würden ihn gern aus dem Amt entfer-
nen. Im Fall Clinton gab es allerdings,
anders als jetzt, keine guten Argumente
für ein Impeachment.
SPIEGEL:Clinton wurde vom Kongress
angeklagt.
Sunstein:Aber da ging es um Meineid.
Was Clinton tat, war alles andere als
gut, er hatte unter Eid gelogen. Doch die
US-Verfassung nennt Landesverrat,
Bestechung oder andere schwere Verbre-
chen und Vergehen als Grundlage für
ein Impeachment. Meineid gehört nicht
dazu, es sei denn, der Präsident löge
zum Beispiel über Landesverrat. Wenn er
aber lügt, weil er einen Ladendiebstahl
begangen hat oder bei Rot über die Am-
pel gelaufen ist oder eine außereheliche
Affäre hatte ...
SPIEGEL:... wie Clinton mit Monica
Lewinsky ...
Sunstein:... dann ist das eine Straftat,
aber kein »schweres Verbrechen und Ver-
gehen« im Sinne der US-Verfassung. Das
Impeachment-Verfahren soll den Aufstieg
autoritärer Herrscher verhindern, es zielt
auf außergewöhnlichen Machtmissbrauch,
nicht auf Lügen über Seitensprünge.
SPIEGEL:Zum Beispiel?


Sunstein:Das Verfahren gegen Richard
Nixon, auf das er mit seinem Rücktritt
reagierte, war legitim. Ein anderer Grund
wäre es, wenn ein Präsident politische
Gegner ins Gefängnis stecken ließe. Wenn
er dagegen nachts schreiend über die Stra-
ße rennt oder betrunken in einer Kneipe
randaliert, dann ist das vielleicht eine
Straftat, aber kein Grund für eine Amts-
enthebung. Manche Leute wollen ein Im-
peachment Trumps wegen seiner Haltung
zum Klimawandel anstrengen. Das allein
wäre aber kein Argument.
SPIEGEL: Also hatte Nancy Pelosi, die
demokratische Sprecherin des US-
Re präsentantenhauses, damit recht, dass
sie bisher zurückhaltend war, was ein
Amtsenthebungsverfahren angeht?
Sunstein:Ja, dass die Demokraten bisher
vorsichtig waren, halte ich für bewun-
dernswert. Es ist ganz anders, als die
Republikaner sich bei Clinton verhalten
haben.
SPIEGEL:Warum hat Pelosi ihre Meinung
nun geändert?

Sunstein:Die Ukrainevorwürfe sind
ernst. Trotzdem müssen die Demokraten
zunächst klären, ob die Fakten tat -
sächlich die verfassungsrechtliche Schwel-
le für ein Amtsenthebungsverfahren
erreichen.
SPIEGEL:Wie schätzen Sie das ein?
Sunstein:Sollte der Präsident tatsächlich
gesagt haben, »wir blockieren Gelder, es
sei denn, Sie ermitteln gegen Biden«,
dann bestünde wenig Zweifel daran, dass
ein Impeachment gerechtfertigt wäre. Soll-
te das der Fall gewesen sein, wäre das eine
sehr schwerwiegende Angelegenheit. Stel-
len Sie sich vor, Emmanuel Macron sagte,
er arbeite nur mit Deutschland zusam-
men, wenn es strafrechtliche Ermittlungen
gegen seinen Widersacher einleite! Das
wäre ein Musterbeispiel für »schwere Ver-
brechen und Vergehen«.
SPIEGEL:Wie würde so ein Impeachment
ablaufen? Bisher gibt es ja nur wenige Prä-
zedenzfälle in der US-Geschichte.
Sunstein:Trotzdem haben wir eine ganz
gute Vorstellung davon, wie das funktio-
niert, die Verfassung ist da eindeutig. Zu-
erst würde das Repräsentantenhaus auf
Ausschussebene über »articles of impeach-
ment« abstimmen, vergleichbar mit An-
klagepunkten vor einem Gericht. Danach
würde das Votum ans Plenum gehen.
SPIEGEL:Wie sehen Sie die Chancen
dafür?
Sunstein:Angesichts der Mehrheit der
Demokraten im Repräsentantenhaus sind
die Chancen dafür realistisch.
SPIEGEL:Wie schnell geht so etwas?
Sunstein:Das käme darauf an, ob
sich das Impeachment nur auf eine Sache
konzentriert, etwa auf die Ukraine -
vorwürfe ...
SPIEGEL:... wie es Pelosi offenbar an-
strebt ...
Sunstein:... oder ob noch andere As -
pekte dazukommen, beispielsweise die
Russlandermittlungen.
SPIEGEL:Und dann?
Sunstein:Wenn das Repräsentantenhaus
mehrheitlich für ein Impeachment votiert
und der Präsident sein Amt nicht frei -
willig aufgibt, geht das Verfahren an den
Senat. Dort findet dann das Äquivalent
eines Gerichtsprozesses statt.
SPIEGEL:Doch im Senat haben die Repu-
blikaner die Mehrheit.
Sunstein:Und dort muss für einen
Schuldspruch eine Zweidrittelmehrheit er-
reicht werden. Der Maßstab für eine
Amtsenthebung liegt absichtlich sehr
hoch. Nach jetzigem Stand ist die Chance,
dass Trump angeklagt wird, zwar recht
hoch, aber die Chance, dass er tatsächlich
aus dem Amt entfernt wird, gering. Aber
wir haben in den vergangenen Jahren in
unserem Land schon viele Überraschun-
gen erlebt. Interview: Marc Pitzke

RechtHarvard-Jurist Cass Sunstein über die Erfolgsaussichten


eines möglichen Amtsenthebungsverfahrens gegen Donald Trump


»Besorgniserregend«


GETTY IMAGES
Verfassungsrechtler Sunstein
»Wir haben viele Überraschungen erlebt«
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