Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 23

Demografie

»Mehr Arbeitsstunden


pro Woche«


Norbert Schneider, 64, Direktor des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung,
über seine Studie, nach der die Ver -
rentung der Babyboomer keinen Arbeits -
kräftemangel zur Folge haben muss

SPIEGEL:Herr Schneider, im Jahr 2030
wird die Differenz zwischen den
67-Jäh rigen, die in Rente gehen, und den
18-Jährigen, die theoretisch ins Berufs -
leben einsteigen können, gut 500 000
betragen. Sie halten diese Lücke an
Arbeitskräften für weitgehend kompen-
sierbar. Was macht Sie so optimistisch?
Schneider:2030 erwarten wir den Peak
der demografischen Entwicklung, danach
geht der Jahrgang 1964 in Rente. Aber
wir haben in unserer Studie nicht nur
Köpfe gezählt, sondern die Arbeitsstun-
den der Gesamtbevölkerung pro Woche –
die Zahl wächst seit Jahren deutlich und
wird es weiterhin tun.
SPIEGEL:Wieso wird mehr gearbeitet?
Schneider:Erstens ist die Erwerbsquote
bei Frauen stark gestiegen, zweitens
nimmt die Erwerbstätigkeit der über

55-Jährigen zu. Außerdem profitiert der
Arbeitsmarkt vom wachsenden Anteil
der Höhergebildeten. Sie arbeiten mehr
und länger als Menschen mit niedriger
Bildung.
SPIEGEL:Und das soll reichen, um eine
Lücke von sieben Millionen Menschen
bis 2040 zu schließen?
Schneider:Wenn wir unsere gesellschaft-
lichen Strukturen nicht ertüchtigen,
wird das nicht reichen. Um die Frauen -
erwerbsquote insgesamt auf das ost -
deutsche Niveau zu steigern, müssen wir
die Kinderbetreuung und Ganztags -
schulen im Westen enorm ausbauen. Wir
müssen in lebenslange Fort- und Weiter-
bildung investieren und in ein betrieb -
liches Gesundheitsmanagement, etwa in
alters gerechte Arbeitsplätze.

SPIEGEL:Bisher galt Zuwanderung als
zwingend, um die Wirtschaftskraft zu
erhalten.
Schneider:Verbände und Wirtschaftsfor-
scher beschwören Szenarien mit über -
alterten Belegschaften, Innovationsverlus-
ten, Produktionsrückgängen sowie Fach-
kräftemangel. Das wird nicht passieren.
Wir können mit der vorhandenen Bevöl-
kerung einen erheblichen Teil der Lücke
schließen. Wir selbst rechnen in unserer
Studie mit 200 000 Zuwanderern pro
Jahr. Aber das sind ja zunächst einmal
Menschen und keine Fachkräfte, die kom-
men in der Regel mit Frau und Kind, also
netto vielleicht 80 000 Arbeitskräfte.
SPIEGEL:Wenn der Anteil der Höher -
gebildeten in Deutschland weiter steigt,
löst dies aber nicht das Problem bei Man-
gelberufen wie Altenpflegern.
Schneider:Sicher gibt es regionale und
branchenspezifische Defizite. Aber wenn
Verbände über Fachkräftemangel klagen,
kann ich nur sagen: Gibt es zu wenig
Maurer, muss man die Löhne erhöhen
und die Arbeitsbedingungen verbessern.
Das gilt auch für Erzieherinnen oder
Altenpfleger. Da muss man Anreize schaf-
fen, politisch umsteuern. In Deutschland
ist genug Geld da: Die Frage ist nur, wo
wir es investieren. WEI

BIB
Schneider

Lucke-Partei

Teure schlechte


Ausrede?


 Im Streit um staatliche Fördermittel
hat die neue Partei des früheren AfD-
Chefs Bernd Lucke eine juristische
Schlappe erlitten. Luckes Partei »Libe-
ral-Konservative Reformer« (LKR) hat-
te vor dem Berliner Verwaltungsgericht
gegen die Bundestagsverwaltung
geklagt, die der Partei die Zuschüsse
gekürzt hatte und von ihr rund 235 000
Euro Fördergeld zurückfordert. Begrün-
dung: Die LKR hätte die Abgabefrist
für ihren Rechenschaftsbericht am


  1. Dezember 2018 nicht eingehalten.
    Die Partei argumentiert dagegen, ihr
    Schatzmeister habe versucht, den
    Bericht fristgerecht beim Bundestag
    abzugeben. Der Diplom-Mathematiker
    sei an jenem Tag mit dem Zug nach
    Berlin gefahren, gegen 23.20 Uhr aber
    im Getümmel der Silvesterparty im
    Regierungsviertel stecken geblieben.
    Polizisten an einer Absperrung hätten
    ihn nicht zum Reichstag durchlassen
    wollen. Am Ende habe der Bericht per
    Post verschickt werden müssen und
    sei verspätet eingetroffen. Das Gericht
    ließ die Entschuldigung nicht gelten.
    Die Klage wurde abgewiesen. SRÖ


»Digitale Gewalt«

Künast wehrt sich


 Angesichts rassistischer und sexisti-
scher Aggression im Internet hat die Grü-
nenpolitikerin Renate Künast gemein -
sam mit Netzaktivistinnen und Frauen-
rechtlerinnen einen parteiübergreifenden
Appell »gegen digitale Gewalt« ins
Leben gerufen. »Wir benennen die im
Internet stattfindende und darüber aus -
geübte Gewalt klar und deutlich als das,
was sie ist«, heißt es in dem Aufruf,
»statt sie als ›Internet-Empörungskultur‹
oder ›andere Meinungen‹ wegzuwischen.
Hate Speech bedeutet letztlich eine
Gefahr für die Demokratie«. Die Initiato-
rinnen, unter ihnen die SPD-Politikerin
Sawsan Chebli, die linke Bundestagsab-
geordnete Anke Domscheit-Berg und die
feministische Autorin Anne Wizorek,
fordern eine öffentliche Debatte über die
»geschlechtsspezifischen Aspekte von
digitaler Gewalt und Hate Speech« und
ihre Bezüge zu »Rassismus, Antisemitis-
mus und Behindertenfeindlichkeit«. Um
diesen Formen von Gewalt effektiver ent-
gegenzutreten, fordern die Autorinnen
Schwerpunktstaatsanwaltschaften gegen
Hate Speech, eine bessere Ausstattung
und Ausbildung der Polizei, Strafverfol-
gungsbehörden und Gerichte sowie
den Abbau juristischer Hürden für Zivil -

klagen. Social-Media-Anbieter müssten
stärker in die Pflicht genommen werden,
etwa indem sie sich an den Kosten für
Beratung gegen Hate Speech beteiligen
sollten. Auslöser für den Appell war ein
Gerichtsbeschluss gegen Künast, in dem
die Richter schlimmste Beleidigungen
gegen die Grüne durch anonyme Face-
book-Nutzer noch als zulässig eingestuft
hatten. Der Appell warnt aber auch vor
digitaler Gewalt »aus dem persönlichen
Umfeld der Betroffenen«, etwa durch
Onlinestalking oder unerlaubt verbreite-
te Nacktbilder. AMA

BERND VON JUTRCZENKA / DPA
Künast
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