Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

D


ienstagnachmittag, 15 Uhr, die
Bundestagsabgeordneten von
CDU und CSU treffen sich zur
Fraktionssitzung. Der Bundes -
innenminister fehlt – mal wieder. Horst
Seehofer sei wohl »unpässlich«, sagt Frak-
tionschef Ralph Brinkhaus, für viele klingt
es sarkastisch.
Die Abgeordneten hätten viele Fragen
an den Minister, zum Beispiel zu seinem
jüngsten Vorschlag, von dem die meisten
erst aus der Zeitung erfahren haben:
Deutschland solle jeden vierten von NGO-
Schiffen aus dem Mittelmeer geretteten
Flüchtling aufnehmen. Seitdem fragen sich
nicht wenige Abgeordnete: Wie sollen sie
das bloß ihren Wählern erklären?
Brinkhaus fordert Seehofers Parlamen-
tarischen Staatssekretär Stephan Mayer
auf zu schildern, was der Minister denn so
vorhabe in der Asylpolitik. Mayer steht
auf und bittet zunächst um Verständnis,
dass Seehofer wegen »wichtiger Termine«


verhindert sei. Der Satz, so schildern es
Teilnehmer, sorgt für bittere Heiterkeit.
Viele konservative Abgeordnete sind
irritiert bis enttäuscht über Horst Seehofer,
sie verstehen seine Wandlung nicht. Noch
vor einem Jahr, vor der bayerischen Land-
tagswahl, hatte Seehofer so erbittert für
seinen »Masterplan Migration« und die
Zurückweisung von Asylbewerbern an
der Grenze gestritten, dass daran sogar
beinahe die Fraktionsgemeinschaft zer-
brochen wäre. Viele Abgeordnete kämpf-
ten damals in voller Kriegsbemalung
an der Seite Seehofers, jetzt fühlen sie
sich von ihrem alten Häuptling im Stich
gelassen.
Der Horst Seehofer von früher schmäh-
te die Asylbeschlüsse der Europäischen
Union als »abenteuerlich«, als »grobe
Schnitzer« und fand, in Brüssel habe man
lange genug »geredet«. Der neue Seehofer
spricht von europäischer Solidarität und
will bei den EU-Amtskollegen mit gutem

Beispiel vorangehen, wenn es um die Auf-
nahme von Migranten geht.
Der Seehofer von früher schimpfte auf
die Starrköpfigkeit und Undankbarkeit der
Kanzlerin, »der Person, der ich in den Sat-
tel verholfen habe«. Der neue Seehofer
sagt, dass nur große Menschen die großen
Probleme unserer Zeit strukturiert lösen
könnten. »Und Angela Merkel ist so ein
großer Mensch.« Es scheint, als sähe er in
der einstigen Gegnerin nun seine wichtigs-
te Unterstützerin.
Der Innenminister versteht die Aufre-
gung nicht. »Ich habe von manch einem ge-
hört, man müsse Haltung in der Asylpolitik
zeigen. Nichts anderes tue ich jetzt.« Es gebe
nur den einen Horst Seehofer, versichert er,
einen Menschen mit seit Jahrzehnten unver-
ändertem Wertesystem, der aber vor einer
monumentalen Aufgabe stehe. »Wir erleben
einen Migrationsdruck aus ganz unterschied-
lichen Richtungen, dem sich nur mit einer
europäischen Lösung begegnen lässt«, sagt

26 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Vom Häuptling


enttäuscht


MigrationDie Unionspolitiker erkennen Horst Seehofer


nicht wieder. Der Innenminister fordert feste Quoten
für die Aufnahme von aus Seenot Geretteten und sucht in

Europa Verbündete. Seine wichtigste Unterstützerin
ist ausgerechnet die Bundeskanzlerin. Was ist da passiert?

Deutschland

JONATHAN BORG / DPA
Innenminister Seehofer: »Viele Facetten – und vor allem ein großes Herz«
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