Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Seehofer. Sonst werde die EU dieses große
Thema nicht in den Griff bekommen.
Wegen dieser großen Aufgabe vermei-
det Seehofer zunehmend Konflikte, die er
oft als kleingeistig empfindet. Und so ge-
schieht es, dass er auch die Chancen ver-
streichen lässt, sich den eigenen Leuten zu
erklären: Selten taucht der Minister in Sit-
zungen der CSU-Landesgruppe oder der
Fraktion auf. Er hat Fraktionschef Brink-
haus erklärt, er komme nur, wenn ein Pro-
jekt von ihm auf der Tagesordnung stehe.
Wenn er sich doch die Mühe macht, sei-
ne Ideen zur Migration zu erläutern, wie
diese Woche vor den Innenpolitikern der
Union, kommt sein Konzept bei manchen
sogar sehr gut an. Aber das reicht nicht.
Als Horst Seehofer am späten Dienstag-
abend in seinem Ministerium empfängt,
braucht er nur einen Kugelschreiber und
eine Papierserviette, um aufzumalen, wie
er sich die große europäische Lösung des
Flüchtlingsproblems vorstellt.


Er zeichnet einen etwas krakeligen
Kreis, der Europas Außengrenzen markie-
ren soll. Auf die Grenzlinie zeichnet er
kleine Kästchen, das sind die Aufnahme-
zentren, in denen Migranten künftig auf
Sicherheitsrisiken überprüft werden soll-
ten. Manche könnten dann sofort zurück-
geschickt werden, sagt Seehofer, und zeich-
net einen Pfeil, der wegführt von Europa,
in Richtung Rand der Serviette.
Die anderen würden nach einem festen
Schlüssel auf die EU-Staaten verteilt, die
zu ihrer Aufnahme bereit sind. Erst dort
sollen die Asylverfahren durchgeführt
werden. Staaten, die sich verweigern,
sollen sich anders einbringen, etwa mit
Geld – »flexible Solidarität« heißt das bei
Seehofer.
»D = 22 %« schreibt er groß in die
Mitte seines Kreises. So viele Migranten
könnte das Land jedes Jahr aufnehmen,
sagt er. Dann sei kein Dublin-System
mehr nötig.

»Für diese große europäische Lösung
kämpfe ich mit aller Kraft«, sagt Seehofer.
Sie ist nicht ganz neu, viele Elemente wer-
den seit Jahren auf EU-Gipfeln diskutiert,
streng genommen handelte Angela Merkel
2018 ein ähnliches Konzept aus. Damals
nannte Seehofer ihre Ergebnisse »nicht
wirkungsgleich« mit seinem Masterplan.
Aber heute sei die Lage ganz anders, be-
tont der Innenminister, denn mit der fran-
zösischen und der neuen italienischen
Regierung öffne sich ein »historisches Zeit-
fenster« für einen europäischen Asyl -
kompromiss. Endlich zögen Deutschland,
Frankreich und Italien an einem Strang.
»Und in Brüssel haben wir noch eine deut-
sche EU-Kommissionschefin, die das Pro-
jekt mit frischer Kraft voranbringen kann.«
Vor der großen Lösung müsse man aber
bei der Seenotrettung vorankommen, sagt
Seehofer. Dafür hat er jüngst auf Malta ge-
meinsam mit Italien und Frankreich eine
kleine Lösung entwickelt, die auf dem EU-

27

JORGE GUERRERO / AFP

Gerettete Migranten in Málaga, Spanien
Free download pdf