Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Innenministertreffen Anfang Oktober in
Luxemburg festgezurrt werden soll.
Hier kommt die Quote ins Spiel, die
seine Unionskollegen so erregt: Wie eines
Tages bei der großen Lösung sollen die
Mittelmeerschiffbrüchigen direkt auf alle
willigen EU-Staaten verteilt werden, mög-
lichst binnen vier Wochen.
Dann wäre Schluss mit den hilflos im
Mittelmeer treibenden Schiffen der See-
notretter, dann müsste er nicht mehr am
Wochenende in Europa herumtelefonie-
ren, ob und wie viele Schiffbrüchige wer
aufnehmen könne.
Deutschland könnte ein Viertel dieser
Schutzsuchenden übernehmen, so wie
schon bisher, hat Seehofer angeboten. Das
Modell solle auf ein halbes Jahr befristet
und jederzeit einseitig kündbar sein, be-
tont er, »wenn wir Missbrauch feststellen
oder die Zahlen zu hoch werden«. Mit die-
sen Sicherheitsklauseln »sehe ich keine Ge-
fahr für Deutschland«. So entstehe auch
kein Pull-Effekt.
Der alte Seehofer von 2018 dachte in der
Asylpolitik noch in Signalen. Grenzkon -
trollen zu Österreich lohnten sich für ihn
bereits, wenn dabei nur ein paar Dutzend
Migranten tatsächlich abgewiesen würden.
Hauptsache, die Symbolik stimmte. Der
neue Seehofer rechnet vor, dass seit Juli
2018 nur 2200 Menschen zumeist von
NGOs aus dem Mittelmeer gerettet worden
seien. Gerade mal 225 davon seien bisher
nach Deutschland gekommen. Seehofer
tippt sich an die Stirn. »Wenn wir das nicht
schaffen, sind wir erst recht zu mutlos für
eine große europäische Lösung.«
Seinen Quotenvorschlag hat der Minis-
ter kürzlich spontan Journalisten diktiert,
ehe die Staatssekretäre oder Innenpoliti-
ker im Bilde waren. Die erwachten am Wo-
chenende zu der Nachricht: »Seehofer will
jeden vierten Flüchtling aufnehmen.«
In der CSU-Landesleitung in München
gehen seither massenhaft Mails und Anru-
fe ein. »Seid ihr verrückt?« – »Nie mehr
CSU!« – »Nur noch AfD!« Auch in der
Fraktion ist der Ärger groß: So wie Seeho-
fer könne man nicht kommunizieren, heißt
es. Ein fester Mechanismus zur Verteilung
von Bootsflüchtlingen sei eine 180-Grad-
Abkehr von der bisherigen CSU-Linie.
In der Sitzung der AG Innen forderte der
CSU-Abgeordnete Michael Kuffer, künftig
wenigstens in der Fraktion abzustimmen, ob
man bei den vereinbarten Quoten bleiben
könne. »Wenn die Zahlen nach oben gehen,
müssen wir aussteigen!«, sagt Kuffer. »Pull-
Faktoren müssen wir sicher vermeiden.«
Seinen konservativen Parteifreunden ist
der Innenminister plötzlich so fremd wie
Angela Merkel. Kein Wunder, klingen
doch beide neuerdings sogar gleich: Bei
seiner jüngsten Pressekonferenz klagte
Seehofer, es sei doch »unglaublich«, dass
man sich für die Rettung ertrinkender


Menschen rechtfertigen müsse. Hatte nicht
auch die Bundeskanzlerin im Flüchtlings-
herbst 2015 gesagt: »Wenn wir uns jetzt
noch entschuldigen müssen dafür, dass wir
in Notsituationen ein freundliches Gesicht
zeigen, dann ist das nicht mein Land.«
Schmerzlich ist für Seehofer, dass er mit
seiner Asylpolitik sogar den Bruch mit sei-
nem engsten Vertrauten riskiert, mit Lan-
desgruppenchef Alexander Dobrindt. Nie
würde Dobrindt Seehofer öffentlich an-
greifen, aber in internen Sitzungen geraten
sie längst aneinander. Dobrindt muss die
46-köpfige Landesgruppe auf Kurs halten,
sich loyal zu Seehofer verhalten, darf aber
auch nicht die CSU-Wähler verprellen und
schon gar nicht Parteichef Markus Söder,
der Dobrindt von München aus genau
beobachtet. Ein multipler Spagat, den
Dobrindt da vollbringen muss.
Seehofer ist nur noch für sein Ressort ver-
antwortlich, nicht mehr für die CSU. Ihm
geht es auch darum, welchen Eindruck er
in den Geschichtsbüchern hinterlässt, den
des harten Hundes, des »Störenfrieds« oder
gar »Gefährders«, wie ihn der SPIEGELein-
mal nannte? Es frustriert Seehofer auch,

wenn eine Bemerkung, die er nur scherz-
haft meinte, ihm noch monatelang nach-
hängt. Wie der Satz über die 69 Afghanen,
die an seinem 69. Geburtstag abgeschoben
wurden – »das war von mir nicht so be-
stellt«, sagte Seehofer damals. Heute würde
ihm das nicht mehr passieren.
Als sich die Unionsminister jüngst zum
»schwarzen Frühstück« vor der Kabinetts-
sitzung trafen, soll Landesgruppenchef
Dobrindt ausführlich seine Kritik an den
Asylplänen des Ministers erklärt haben.
Man schicke diese Migranten keinesfalls
in die Hölle, wenn man sie an die libysche
Küstenwache zurückgebe, soll Dobrindt
erklärt haben. Man dürfe der Schlepper-
industrie nicht das falsche Signal geben,
jedem stünden die Tore nach Deutschland
offen. Darauf sei Merkel Dobrindt über
den Mund gefahren: Im Bundesinnen -
ministerium arbeiteten doch keine Idioten,
habe die Kanzlerin gesagt, die würden sich
schon etwas denken bei ihren Vorschlägen.
In der Union ist es einsam geworden um
Seehofer, der die Nächte in Berlin immer
noch in einem Zimmerchen in seinem
Ministerium verbringt. Da kann es vor -
kommen, dass morgens um halb sechs der
Feueralarm geht, aber niemand nach dem
Minister schaut. Dafür konnte Seehofer
kürzlich vor Journalisten auf eine interne

Umfrage verweisen, wonach 84 Prozent sei-
ner Beamten »zufrieden oder sehr zufrie-
den« mit ihrem Job seien. Und auch politisch
hat er neue Freunde gefunden. Zum Beispiel
Claus-Peter Reisch, Seenotretter von »Mis-
sion Lifeline«, der ihn vor der Sommerpause
im Ministerium besuchte. »Ein anständiger,
vernünftiger Mann«, lobt Seehofer, und
Reisch habe wohl auch gesehen, dass der
Minister kein Menschenfeind ist.
Auch die Bischöfe, die den CSU-Mann
noch vor einem Jahr für seinen herzlosen
Kurs verdammten, schicken ihm jetzt wie-
der ermutigende Briefe, Erzbischof Rein-
hard Marx etwa.
Beim Koalitionspartner SPD ist man
ohnehin erleichtert, dass der alte Seehofer
verschwunden ist. Der neue kommt zur
Verabschiedung von Burkhard Lischka,
dem langjährigen Innenexperten der SPD,
und findet emotionale Abschiedsworte.
Lischka, der den Bundestag verlässt, um
Notar zu werden, freut sich über die Ver-
wandlung des Ministers: »Wir reden heute
nicht mehr von dem Horst Seehofer, der
anfangs wie der bayerische Sonnenkönig
nach Berlin einritt und glaubte, er müsse
nur die Order des Tages ausgeben, und
alle würden spuren.« Nach und nach habe
er bemerkt, sagt Lischka, »dass Seehofer
viel mehr Facetten hat – und vor allem ein
großes Herz«. Insofern habe ihn die Hal-
tung des CSU-Mannes zur Seenotrettung
nicht überrascht. »Mit ihm konnte man
zum Teil vernünftiger zusammen arbeiten
als mit der Unionsfraktion.«
Nächste Woche will Seehofer in die Tür-
kei und nach Griechenland reisen. Der fran-
zösische Amtskollege wird ihn abholen,
dann fliegen sie gemeinsam mit dem EU-
Migrationskommissar nach Ankara. Es gilt,
Merkels Flüchtlingsdeal mit der Türkei zu
retten. Ein Regelwerk aus einer Zeit, als
Seehofer in Deutschland noch eine »Herr-
schaft des Unrechts« feststellte. Anschlie-
ßend geht es nach Griechenland, das einen
neuen Andrang von Geflüchteten erlebt.
Seehofer will deutsche Hilfe anbieten, um
die Situation in den überfüllten Lagern auf
den Inseln in den Griff zu bekommen.
An jenem Abend im Ministerium er-
wähnt Seehofer einen Brief, den ihm Frak-
tionskollegen geschickt hätten. Deutschland
müsse unbedingt 1000 Jesiden aufnehmen.
1000 Jesiden! »Und 225 Schiffbrüchige in
einem Jahr sollen zu viel sein?« Aber selbst-
verständlich, sagt Seehofer, werde er sich
für das Anliegen der Kollegen einsetzen.
Melanie Amann, Martin Knobbe,
Ralf Neukirch, Wolf Wiedmann-Schmidt

28 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Deutschland

Video
Seehofers Wandlung
im Wortlaut
spiegel.de/sp402019seehofer
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»Wenn wir das nicht
schaffen, sind wir
zu mutlos für eine große
europäische Lösung.«
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