Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
FLORIAN GENEROTZKY / DER SPIEGEL

Päpstliches Geheimnis


MissbrauchEin katholischer Pfarrer im Saarland soll sich an Messdienern vergangen haben.


Der Fall zeigt die teils bizarren Regeln eines kirchenrechtlichen Strafverfahrens.


Ex-Messdiener Ranzenberger

A


n einem Freitag Ende August be-
kommt Timo Ranzenberger Be-
such von einem Mann der Kirche.
Der katholische Geistliche aus
Köln will wissen, was dem heute 35-Jähri-
gen in seiner Zeit als Messdiener wider-
fahren ist. Wurde er damals sexuell miss-
braucht, an welche Details kann er sich
erinnern? Ranzenberger ist ein wichtiger
Zeuge. Als sich der Besucher nach fast
sechs Stunden von ihm verabschiedet, ist
es beinah schon dunkel.
Die Ermittlungen der Kirche richten
sich gegen einen der ihren, einen Priester,
der sich an mehreren Kindern vergangen
haben soll. Fast 28 Jahre lang hat er in Frei-
sen, einem Ort mit rund 8000 Einwoh-
nern im Saarland, die katholische Pfarrei
geleitet, inzwischen ist er im Ruhestand.
Seit dem Frühjahr 2018 läuft gegen ihn ein
kirchliches Strafverfahren.
Die Kirche hat eine eigene Gerichts -
barkeit, eine Paralleljustiz, die sie unab-
hängig von staatlicher Strafverfolgung ge-
gen ihren Klerus einsetzt. Diese Justiz
arbeitet nach ihren eigenen Regeln, ver-
schlossen, leise, mit viel Geheimniskräme-
rei. Manche Vorschriften muten altertüm-
lich und absurd an.
Auch die Staatsanwaltschaft hat gegen
den Freisener Priester schon in mehreren
Fällen wegen Missbrauch ermittelt, doch
fast alle Verfahren wurden eingestellt, mal
reichte der Tatverdacht nicht aus, mal
waren die Vorwürfe bereits verjährt. Als
Timo Ranzenberger den Priester mit
22 Jahren schließlich anzeigte, sah die
Staatsanwaltschaft zwar einen hinreichen-
den Tatverdacht, stellte die Ermittlungen
aber wegen Verjährung ein.
Das Kirchenverfahren ist für Ranzen -
berger und andere mutmaßliche Opfer nun
eine Chance, vielleicht doch noch Genug-
tuung zu erfahren und den Mann, den sie
als Täter beschuldigen, verurteilt zu sehen.
Für die Kirche geht es darum zu beweisen,
dass sie tatsächlich »kompromisslos« auf-
klärt, wie sie es versprochen hat.
Ein Jahr ist es her, seit die deutschen
katholischen Bischöfe ihre Missbrauchs -
studie vorgelegt haben. Von 1670 mutmaß-
lichen Tätern in der Zeit zwischen 1946
und 2014 ist darin die Rede, ihre Opfer
waren zur Hälfte 13 Jahre alt oder jünger,
als sie zum ersten Mal missbraucht wur-
den. Abgeschlossen ist die Aufklärungsar-
beit nicht. Nur in gut einem Drittel der Fäl-


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