Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
»Er war mir sofort sympathisch.« Wenn er
ihn auf der Straße getroffen habe, habe er
gesagt, grüß dich, Timo, wie geht’s?
Warum ging er wieder mit ihm, nach
dem, was ihm im Gästezimmer des Pfarr-
hauses widerfahren war? »Ich dachte, es
war ein Ausrutscher, er wird es nicht wie-
der tun.«

In einem Strafverfahrennach dem Kir-
chenrecht wird die Kirche zum Ermittler,
zum Ankläger und zum Richter. Für die
Betroffenen ist es ein System, das sie nicht
durchschauen, das sich abschottet und da-
durch viele Merkmale einer Geheimjustiz
hat. Es gibt keine öffentlichen Gerichts -
verhandlungen oder Urteilsverkündungen.
Die Verfahren zum sexuellen Missbrauch
unterliegen dem »päpstlichen Geheimnis«,
einer strengen Verschwiegenheitsregel.
Es ist eine Gerichtsbarkeit, die Rom un-
terworfen ist, genauer gesagt, der Glau-
benskongregation, die als Nachfolgerin der
Inquisitionsbehörde die »Glaubens- und

Sittenlehre« der katholischen Kirche schüt-
zen soll. Zwar betreiben die Bistümer bei
Missbrauchshinweisen eigene Voruntersu-
chungen. Doch dann entscheidet die Kon-
gregation in Rom, ob ein Verfahren einge-
leitet wird. So war es auch bei Pfarrer M.:
Als das zuständige Bistum Trier nach Vor-
ermittlungen den Verdacht »in mehreren
Fällen erhärtet« sah, ordnete Rom ein
Gerichtsverfahren in Köln an, um die
Neutralität zu wahren, und hob die Ver-
jährung auf.
Timo Ranzenberger erhielt vor dem Ter-
min nur diese Information: Es gehe um ein
»kirchliches Strafverfahren wegen sexuel-
len Missbrauchs Minderjähriger im Sinne
des Art. 6 der Normae de gravioribus de-
lictis«. Ranzenberger hatte keine Ahnung,
was damit gemeint war.
In diesen »Normen über die schwerwie-
genden Delikte« findet sich auch der Straf -
tatbestand, nach dem das katholische
Kirchenrecht sexuellen Missbrauch ver-
folgt. Er beruht auf einer Betrachtungs -

weise, wie sie so verquer nur in der Papst-
kirche akzeptabel sein kann. Die eigent -
liche strafbare Handlung besteht danach
letztlich in der Verletzung des Zölibats:
Indem ein Kleriker einen Minderjährigen
sexuell missbraucht, verstößt er gegen
das sechste Gebot (»Du sollst nicht ehe-
brechen«).
Was dem Kind angetan wird, interessiert
deutlich weniger. Die kirchliche Strafnorm,
sagt der Münsteraner Kirchenrechtler
Klaus Lüdicke, »hat nicht den Opferschutz
im Blick, sondern die Disziplinierung des
Klerus«. Höchste Zeit für eine Reform, fin-
det der Professor: »Um ihre Glaubhaftig-
keit zu schützen, müsste die Kirche auch
den Vertrauensschaden ahnden, den solche
Taten an richten.«
Denn viele Gläubige sind nicht nur über
die Taten entsetzt, sondern ebenso über
die jahrelange Vertuschung und Untätig-
keit durch Kirchenobere. Auch im Bistum
Trier dauerte es fast zehn Jahre lang, bis
die ersten Vorwürfe gegen Pfarrer M. ernst
genommen und untersucht wurden. Ran-
zenbergers Fall hätten die katholischen In-
stanzen schon damals nachgehen müssen,
nachdem er im Juli 2006 Anzeige gegen
den Pfarrer erstattet hatte. Die Staatsan-
waltschaft Saarbrücken informierte das
Bistum nämlich über das Verfahren, als sie
die Ermittlungen wegen Verjährung ein-
stellte.
Ranzenberger wurde damals noch nicht
einmal angehört, obwohl die Leitlinien der
Bischofskonferenz dies seit 2002 fordern.
Darin heißt es: »Mit dem (mutmaßlichen)
Opfer und seinen Erziehungsberechtigten
wird umgehend Kontakt aufgenommen.«
Und: »Die Fürsorge der Kirche gilt zuerst
dem Opfer.« Timo Ranzenberger und an-
dere Betroffene sagen, sie hätten davon
bis heute nichts gespürt.
Erst 2016, nachdem er die Vorwürfe mit-
hilfe des Saarländischen Rundfunks öffent-
lich gemacht hatte und weitere mutmaß -
liche Opfer von Pfarrer M. sich gemeldet
hatten, bemühte sich das Bistum plötzlich
dringlich um ein Gespräch. Man stehe un-
ter »hohem Druck«, räumte ein Bistums-
funktionär damals ein. Nun erst wurde
eine Voruntersuchung eingeleitet.
Dabei lagen mittlerweile auch Hinweise
aus den eigenen Reihen vor. Am 20. Janu-
ar 2014 hatte eine Pfarrerkonferenz des
Dekanats St. Wendel über den »sehr un-
vorsichtigen Umgang« von Pfarrer M. mit
einzelnen Jugendlichen aus seinen Pfarr -
gemeinden beraten und Trier informiert.
Damals habe man M. Urlaubsfahrten
mit Jugendlichen »sofort untersagt«, teilte
das Bistum später mit. Doch der Pfarrer
blieb im Amt – und hatte weiter Kontakt
mit Messdienern und Kindern, die er zur
Firmung führte.
Seit rund anderthalb Jahren prüft nun
das Kölner Kirchengericht die Vorwürfe,

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 51

le leitete die Kirche nachweisbar interne
Verfahren ein. Manche Täter wurden früh-
pensioniert, andere beurlaubt oder ver-
setzt, rund sieben Prozent wurden aus
dem Klerikerstand entlassen, das heißt, sie
sind keine Geistlichen mehr. Ein gutes
Viertel erhielt keinerlei Strafe oder Sank-
tion. Etliche Verfahren laufen derzeit, so
wie das gegen den früheren Pfarrer von
Freisen, Otmar M.

Am Tag nach seinem Treffenmit dem
Kirchenjuristen aus Köln ist Timo Ranzen-
berger noch immer etwas aufgeregt. Er sei
sehr nervös gewesen, sagt er, »ich wusste
nicht: Welche Fragen kommen da auf mich
zu?« Ranzenberger lebt in einer Einrich-
tung für Suchtkranke südlich von Mün-
chen. Der Raum, in dem der Richter ihn
befragte, dient sonst für Therapiegesprä-
che: Drei Holztische sind zusammenge-
schoben, daneben stehen grüne Metall-
stühle mit Stoffbezug.
Hier schilderte Ranzenberger, was ihm
passiert sei, als er 15 Jahre alt war: wie
Pfarrer M. ihn ins Pfarrhaus zum Über-
nachten eingeladen habe. Wie er ihm dort
Alkohol gegeben habe. Wie er ihm unters
T-Shirt gefasst habe. Wie der Pfarrer ihm,
als er betrunken im Bett lag, an den Penis
gegriffen und gleichzeitig Ranzenbergers
Hand an seinen geführt habe.
Der Besucher aus Köln sei bei seinen
Fragen sehr ins Detail gegangen, sagt Ran-
zenberger: »Denkt er, ich schwindle?« Der
Kirchenrichter habe wissen wollen, ob das
Fenster im Gästezimmer des Pfarrhauses
Rollläden hatte oder Klappläden, ob der
Wecker ein analoger oder digitaler war, ob
über dem Bett ein Kreuz hing oder ein
Bild. Und wo war die »Bar« des Pfarrers?
»Der Alkohol«, sagt Ranzenberger, »stand
im Unterschrank unter der Spüle: Schnaps,
Wein, kleine Jägermeister.« Der Pfarrer
habe ihn ermuntert zu trinken, selbst aber
nur am Glas genippt. In dem Gästebett,
habe der Pfarrer geprahlt, habe sogar
schon mal ein Bischof geschlafen. Und
über dem Bett, sagt Ranzenberger, hing
das Bild eines Apostels.
Suchte sich der Priester gezielt anleh-
nungsbedürftige Jungen? Ranzenberger
habe ihm leidgetan, sagte Pfarrer M. ein-
mal. Er wusste um die schwierigen Verhält-
nisse des Jugendlichen, kannte die katho-
lische Pflegefamilie, bei der er zeitweise
lebte. Seine Mutter, erzählt Ranzenberger,
sei Alko holikerin gewesen, sein Vater
heroinsüchtig. Als er vier Jahre alt war, gab
ihn das Jugendamt in die Obhut der Groß-
mutter, später lebte er in einer betreuten
Wohngruppe. Dort habe ein rauer Um-
gangston geherrscht, »Arschloch, halt’s
Maul«, habe es oft geheißen, er habe sich
gefreut, da mal raus zu sein, wenn M. ihn
abholte. Der Pfarrer, sagt Ranzenberger,
sei nett ge wesen, locker und kumpelhaft.


Pfarrhaus in Freisen
»Nackt unter der Höhensonne«

SASCHA RHEKER / DER SPIEGEL
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