Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
und noch immer steckt das Verfahren in
der Beweisaufnahme. Wann ist ein Urteil
zu erwarten? Das sei völlig offen, so das
Erzbistum Köln.
Monsignore Thomas Weitz, 57, ist der
Vorsitzende Richter in dem Verfahren. Sei-
ne Zeit ist knapp, er ist auch Domkapitular
in Köln, er predigt im Dom und hat seel-
sorgerische Aufgaben. An der Päpstlichen
Universität Gregoriana in Rom und am
Studienhaus Sankt Lambert lehrt er Kir-
chenrecht. In Sexualstrafsachen hat er wie
alle Kirchenrichter wenig Erfahrung.
Für Richter Weitz ist der Fall ziemlich
anstrengend, denn er ermittelt selbst. Um
die Zeugen zu befragen, muss er manch-
mal lange Reisen unternehmen. Zu Timo
Ranzenberger fuhr er rund 600 Kilometer
mit dem Zug. »Jetzt ist ihnen offenbar kein
Weg mehr zu weit«, meint Ranzenberger.
Der Richter habe sich Mühe gegeben,
alles zu verstehen, sagt der frühere Mess-
diener, er habe sich sogar zu ihm auf den
Boden gelegt, als er demonstrieren wollte,
wie der Priester sich ihm im Pfarrhausbett
genähert habe. Doch Ranzenberger hat
Zweifel: »Ich frage mich, kann ein Richter,
der selbst Priester ist, sich vorstellen, dass
sein Kollege so etwas macht? Glaubt er
eher mir – oder ihm?«
Mit am Tisch saß während der Befra-
gung auch der Anwalt des beschuldigten
Pfarrers, ein Kirchenjurist, der die Akten
kennt und bei allen Vernehmungen dabei
sein darf. Was sein Mandant M. aussagt,
erfährt dagegen keines der mutmaßlichen
Opfer. »Hier herrscht keine Waffengleich-
heit«, sagt Ranzenbergers Anwältin Roset-
ta Puma. Die Anhörung habe erst auf ihr
Drängen hin stattgefunden, sie durfte nur
unverbindlich dabei sein. Zugelassen sind
in einem solchen Verfahren nur Kirchen-
rechtler. »Wir rechnen mit Ihrem Verständ-
nis, dass Sie nicht als Anwältin in dem lau-
fenden Verfahren befasst sind«, schrieb ihr
das Kirchengericht kühl.
Es gibt auch keine Nebenklage, die es
Opfern wie im weltlichen Verfahren er-
möglichen würde, am Prozess teilzuneh-
men. Deshalb bekommt Puma keine Ak-
teneinsicht für ihren Mandanten. »Damit
haben wir keine Chance, den Behauptun-
gen des Beschuldigten etwas entgegenzu-
halten«, sagt die Anwältin.
Ranzenberger und sie sollten eine Ver-
schwiegenheitserklärung unterschreiben,
dass sie nichts aus der Anhörung nach au-
ßen tragen. Sie haben abgelehnt.

Kirchenrichter Weitz hatauch mit Stefan
Müller* gesprochen. Elf Jahre alt war Mül-
ler, als Pfarrer M. ihn zu Ausflügen mitge-
nommen habe, mal allein, mal mit ande-
ren. So erzählt es Müller beim Interview
im Mai. Schließlich habe der Pfarrer ihn


  • Name geändert.


eingeladen, im Pfarrhaus zu übernachten.
Er habe nicht verstanden, warum er da
schlafen sollte, doch er habe auch keinen
Verdacht gehegt. »Ein Pfarrer, das war für
mich früher ein Mittler zwischen Himmel
und Erde.«
Sie hätten Pizza gegessen, und Pfarrer
M. habe ihm Wein zu trinken gegeben. Spä-
ter habe er ihn in einen Raum mit einem
großen Bett geführt und ihn aufgefordert,
sich auszuziehen, sogar nachgeholfen, als
er zögerte. Auch der Pfarrer habe sich aus-
gezogen, nackt hätten sie dann unter einer
Höhensonne gelegen, und der Pfarrer habe
angefangen zu onanieren. An das, was in
der Nacht später noch passierte, habe er
keine klare Erinnerung mehr, so Müller,
aber am nächsten Morgen habe er Schmer-
zen in der Analregion gehabt.
Müller sitzt im Besucherraum einer Jus-
tizvollzugsanstalt südlich von Frankfurt.
Weil er als Erwachsener selbst zum Miss-
brauchstäter wurde, verbüßt er derzeit
eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Hier be-
suchte ihn auch der Kirchenrichter, seine
Anwältin durfte nicht dabei sein.
Müller ist katholisch, doch als der Kir-
chenrichter die Bibel hervorholte, damit
er auf sie schwöre, habe er abgelehnt. Er
habe keine Verschwiegenheitserklärung
unterschrieben. Dieser Kirche fühle er sich
nicht mehr verpflichtet, sagt Müller. Er
wolle aufklären, »damit es nicht weiter
passiert«. Im Mai 2016 hatte er einen
Bericht über Pfarrer M. in der Zeitung ge-
lesen und sich beim Bistum gemeldet.
In einem Brief an Bischof Stephan
Ackermann schrieb er damals, wie ihn der
Priester sexuell bedrängt habe. Der Bi-
schof schrieb zurück: »Wenn es tatsächlich
so passiert ist«, wäre das »ein schwerer
Fall von sexuellem Missbrauch eines Kin-

des«, er sei »entsetzt«. Die Kirchenrecht-
ler des Bistums seien ziemlich schnell bei
ihm gewesen, um ihn zu befragen, sagt
Müller.
Bald nach dem Vorfall im Pfarrhaus hat-
te er versucht, seine Mutter einzuweihen.
Die 61-Jährige erinnert sich noch gut an
den Moment vor rund 25 Jahren, als ihr
Sohn erzählen wollte, was passiert war.
»Es war auf der Fahrt nach St. Wendel, wo
wir einkaufen wollten, als er plötzlich sag-
te: Mama, der Pfarrer hat was Komisches
gemacht.«
Sie habe ihm nicht geglaubt. Sie habe
ihm gesagt, er solle still sein, das könne
nicht sein. Der Pfarrer habe ihn bestimmt
nur testen wollen. »Heute weiß ich, was
ich ihm damit angetan habe«, sagt die Mut-
ter. Sie hat Tränen in den Augen: »Ich hab
es mir einfach nicht vorstellen können,
dass ein Pfarrer so was macht.«
Die Frau ist tiefgläubig. Sie sei streng
katholisch erzogen, erzählt sie. Für sie sei
es ganz natürlich gewesen, sich an den
Pfarrer zu wenden, als sie Hilfe suchte.
Die brauchte sie damals besonders drin-
gend, denn sie wollte sich von ihrem Mann
trennen, den sie als gewalttätig und alko-
holkrank beschreibt. Der Pfarrer sollte ihr
eine Empfehlung fürs Kirchengericht aus-
stellen, damit es ihre Ehe für nichtig er-
klärte.
Deshalb habe sie ihren Sohn bei
M. übernachten lassen. »Ich hatte ihm von
unseren Schwierigkeiten zu Hause erzählt,
dass Stefan besonders darunter leide. Da
sagte er, ich solle ihm den Jungen mal schi-
cken, er wolle mal sehen.« Sie packte ihm
ein Köfferchen, so erinnert sie es, und lie-
ferte ihren Sohn im Pfarrhaus ab.
Die Mutter lebt heute in Rheinland-
Pfalz in einem hübschen Haus im Grünen,
sie ist wieder verheiratet, arbeitet als
Künstlerin, doch eine tiefe Traurigkeit um-
gibt sie, wenn sie von ihrem Sohn erzählt.
Und dem Versagen als Mutter, das sie emp-
findet.
Den Brief fürs Kirchengericht bekam
sie sogar, auch wenn sie den Pfarrer mehr-
mals habe erinnern müssen. Er empfahl
darin tatsächlich die Trennung der Eheleu-
te und begründete dies mit »situationsbe-
dingten Verhaltensstörungen« der Kinder,
»besonders bei dem sensiblen Stefan«.
Was die Mutter über die Kirche sagt,
klingt bitter. »Wenn man dem Pfarrer nicht
mehr glauben kann und der Kirche nicht,
wem soll man denn sonst noch glauben?«,
sagt sie mit tränenerstickter Stimme. »Die
katholische Kirche kann gar nicht ermes-
sen, welchen Vertrauensschaden sie ange-
richtet hat.« Es sei »so besonders schlimm,
wenn eine eh schon verletzte Kinderseele
missbraucht wird – und zwar dort, wo ihr
doch geholfen werden sollte«.
Stefan habe von allen Kindern am meis-
ten aushalten müssen. Sein Vater habe ihn

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Deutschland

Pfarrer M. (r.), Geistliche 2011
Großer Einfluss in der Gemeinde

FRANZ RUDOLF KLOS / B & K
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