Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

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Gesellschaft

»Ein Jahr, ein Mädchen, jeden Freitag eine Demo und die Welt fühlt sich komplett anders an.«‣S. 56

Gefängnisse


Warum posten Häftlinge


ihr Essen, Herr Feest?


Johannes Feest, 79, ist Kriminologe und
Rechtssoziologe aus Bremen.


SPIEGEL:In Berliner Justizvollzugsanstal-
ten sitzen etwa 3700 Häftlinge ein. Im ver-
gangenen Jahr wurden mehr als tausend
Handys beschlagnahmt. Wie kommen die
Telefone ins Gefängnis?
Feest:Am unwahrscheinlichsten ist es,
dass Gefangene, die Vollzugslockerungen
haben, sie reinschmuggeln. Sie werden,
wie auch Besucher, streng kontrolliert. Die
Handys werden über die Gefängnismauer
geworfen, oder Beamte bringen sie rein.
SPIEGEL:Die Gefangenen könnten doch
über das Festnetz telefonieren?
Feest:Das geht aber nur zu einer
bestimmten Zeit, und sie dürfen nicht jede


Nummer anrufen. Außerdem können die
Gefängniswärter zuhören. Vor allem ist
das Telefonieren mit dem Handy billiger.
Die Festnetzminute im Gefängnis kostet
in Berlin bis zu sieben Cent.
SPIEGEL:Die Insassen nutzen immer
öfter auch soziale Medien. Auf YouTube
erscheint ein Videoblog, in dem ein Mann,
der in der JVA Tegel sitzt und sich mit
einem Schal vermummt, über den Alltag
im Gefängnis erzählt. Es gibt den Twitter-
kanal »jvaberlintegel leaks«. Und seit
August twittern Häftlinge aus Heidering
unter dem Account
»Gefängniscuisine« Fotos
ihres Essens: etwa vier
Scheiben Brot, zwei Ecken
Käse, eine Tomate. Wieso
tun die Gefangenen das?
Feest:Es ist die Herstel-
lung von Normalität. Drau-
ßen nutzt jeder Facebook
und Instagram, warum

also nicht im Knast? Es hat auch eine poli-
tische Komponente: Die Insassen wollen
aufklären über ihr Leben hinter Gittern.
SPIEGEL: Die JVA Moabit will einen Mo-
bilfunkblocker einrichten. Zählt zur Frei-
heitsstrafe auch, den Kontakt zur Außen-
welt zu begrenzen?
Feest:In den Europäischen Strafvollzugs-
grundsätzen steht: »Die Freiheitsstrafe ist
allein durch den Entzug der Freiheit eine
Strafe.« Was das heißt, ist Auslegungs -
sache. Ich finde es unverantwortlich, dass
es für Häftlinge fast keinen Internetzugang
gibt. Aber der Strafvollzug
hinkt schon immer den
gesellschaftlichen Entwick-
lungen hinterher. Als es im
Gefängnis noch keine Tele-
fonkabinen gab, mussten
die Häftlinge etwa den
Gefängnispfarrer fragen,
ob sie seinen Anschluss
benutzen dürfen.MAG

Nº 195: Herztote


Früher war alles schlechter


1990 starben von 100 000 Menschen in Deutschland 459 an einer Herzerkrankung.

2016 waren es 225 Menschen.

Quelle: Deutscher Herzbericht 2018; ausgewählte Herzkrankheiten

Sein Decrescendo kam zu früh.Im Februar 1911 dirigierte
Gustav Mahler in der New Yorker Carnegie Hall ein Orchester,
es spielte Busonis »Des Mannes Wiegenlied am Sarge seiner
Mutter«, eine Uraufführung. Doch während er vor den Musikern
stand, kämpfte Mahlers Körper gegen Fieber. Nach dem Konzert
diagnostizierten Ärzte bei ihm eine Herzklappenentzündung.
Im Mai starb Mahler. Sein Werk, das den Österreicher zu einem
der bedeutendsten Komponisten aller Zeiten machte, erschuf er in
nur 50 Lebensjahren. Bis heute zählen Herzkrankheiten zu den
häufigsten Todesursachen weltweit. Hierzulande waren es im Jahr
2016 laut dem »Herzbericht« der Deutschen Herzstiftung insge-
samt 207 032 Menschen, auf deren Totenschein eine der im Bericht


aufgeführten Herzkrankheiten als Ursache vermerkt war. Nur an
Krebs starben mehr. Allerdings werden es immer weniger Herz -
tote: Während im Jahr 1990 auf 100 000 Menschen im Schnitt un -
gefähr 459 kamen, waren es 2016 noch rund 225. Die Zahl hat sich
mehr als halbiert. Das liegt wahrscheinlich an verbesserten Vor -
sorgemaßnahmen, beispielsweise der effektiven Behandlung von
Be gleiterkrankungen wie Bluthochdruck. Außerdem können Ärz-
te heute Herzerkrankungen wie eine Verengung der Kranzgefäße
durch Bypassoperationen oder Stents besser bekämpfen, zudem
werden Herzkrankheiten früher erkannt. Und nicht zuletzt:
Der Tabakkonsum ist gesunken. Das alles trägt dazu bei, dass
Menschen heute später sterben.Yannick Ramsel, [email protected]

QUELLE: TWITTER

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019
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