Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
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A


m Montag, dem 16. September, wurde der ehemalige
Bergmann Volker Blume aus Marl bei Gelsenkirchen
um 21.17 Uhr Zeuge einer möglichen Straftat. Blume
schaute gerade das Fußballspiel zwischen dem FC St. Pauli
und dem Hamburger Sport-Verein im Fernsehen, zweite Liga.
Die Partie lief schlecht für den HSV, St. Pauli führte mit 1:0.
Blume ist Fan des HSV, er ärgerte sich.
Dann kam die 45. Spielminute. Blume sah, wie der Hambur-
ger Abwehrspieler Rick van Drongelen den Ball halbhoch zur
Nummer 18 spielte, zum Mittelfeldspieler Bakery Jatta. Jatta
lief dem Ball bis zur Tor-Außenlinie nach, er erreichte ihn und
flankte von dort in den Strafraum – Stürmer Lukas Hinterseer
lenkte den Ball ins Tor. Blume hüpfte vom Sofa und rief »Ja,
ja, ja, jetzt drehen wir das Spiel!«, so berichtet er es. Dann
kam die Ernüchterung. Der
Schiedsrichter zeigte an, dass der
Ball bereits im Aus gewesen sei,
bevor Jatta ihn in den Strafraum
gab. Er erkannte den Treffer
nicht an, es blieb beim 0:1.
Blume fühlte Wut, er hatte
auf den HSV gewettet. »Klare
Kiste«, sagt er, er habe eindeutig
erkennen können, dass der Ball
nicht im Aus gewesen sei. An
jenem Abend lief er in seinem
Wohnzimmer auf und ab. Er hät-
te vor Ärger in den Fernseher
springen können, »das war Schie-
bung, verdammt noch mal«.
Eine knappe Stunde später hatte
der HSV das Spiel mit 0:2 verlo-
ren. Blume nannte den Schieds-
richter ein Arschloch und ging
zu Bett. In dieser Nacht habe er
schlecht geschlafen, sagt er.
Am nächsten Morgen traf Blume einige Freunde. Sie frag-
ten ihn, was mit seinem HSV wieder los gewesen sei. Die
Fragen, fand Blume, hatten einen unschönen Unterton. »Das
sind Dortmund- und Schalke-Fans«, sagt Volker Blume, »die
haben gut lachen.« Borussia Dortmund und Schalke 04 spie-
len in der ersten Liga und häufig in europäischen Wettbewer-
ben. Der HSV ist voriges Jahr abgestiegen, um europäische
Pokale spielt er schon lange nicht mehr.
Blume, Jahrgang 1966, ist seit 42 Jahren Fan des HSV. Da-
mals, sagt Blume, habe er sich in die Bananenflanken von
Manfred Kaltz und in die Kopfbälle von Horst Hrubesch ver-
liebt, den sie »Ungeheuer« nannten. Blume besitzt 20 Schals
vom HSV und zehn Kappen, drei Sets Bettwäsche, sechs Tri-
kots, einen Wollpullover, ein Sweatshirt, ein Paar Torwart-
handschuhe und ein Frühstücksbrettchen, alles in Blau-Weiß-
Schwarz, den Vereinsfarben. Die Wand über seinem Bett
ziert das Vereinslogo mit der Raute – 1,80 Meter mal 1,60
Meter. »85 Prozent meines Lebens gehören dem Verein«,
sagt Blume stolz. Der Rest gehöre seiner Freundin.


Seitdem der HSV nicht mehr so erfolgreich spielt, drückten
ihm seine Kumpels immer nur einen rein, sagt Blume. »Ich
habe in den letzten Jahren viel geblutet.«
Blume war wütend. Er mag es nicht, wenn seine Freunde
sich über den HSV lustig machen. Er wollte, dass der Schieds-
richter seine Entscheidung zurücknahm und das Spiel wie-
derholen ließ. Er googelte nach der Telefonnummer der Deut-
schen Fußball Liga, die organisiert den Spielbetrieb. Eine
Frau nahm ab.
»Ich sagte zu ihr, jeder konnte sehen, das Ding war nicht
im Aus, mein Gott, das war ein Tor.« Er habe ihr gesagt, dass
er den Schiedsrichter sprechen wolle, oder jemanden mit
Verantwortung. Das Telefonat war, so wie Blume sich erin-
nert, ebenso emotional wie kurz. Wer er sei, habe die Frau
gefragt. Blume erwähnte die 42 Jahre als HSV-Fan »und so
weiter«. Die Frau sagte: »Wenn Sie ein Problem haben, gehen
Sie doch zur Polizei.« Dann legte sie auf.
Als Volker Blume an diesem Abend ins Bett ging, schlief
er wieder schlecht. Das Spiel ließ ihn nicht los. Am nächsten
Morgen erstattete er Strafanzeige gegen den Schiedsrichter
Sven Jablonski und seine Assistenten. Tatort: Millerntor-
Stadion, Heiligengeistfeld, Hamburg. Mutmaßliche Tat:
Betrug. Aktenzeichen 017827/2019.
Blume fährt achtmal pro Saison 330 Kilometer von Marl
nach Hamburg, um Spiele seines HSV im Volksparkstadion
zu sehen. Sein Lieblingsspieler
ist der Stürmer Pierre-Michel
Lasogga. Er war fünf Jahre lang
für den HSV im Einsatz und soll
dort zuletzt 3,4 Millionen Euro
im Jahr verdient haben. Manch-
mal fuhr Lasogga vormittags in
einem weißen Maserati zum
Training. Volker Blume besitzt
kein Auto. Er arbeitete als Berg-
mann in der Zeche Auguste
Victoria in Marl, seitdem er 17
war. 26 Jahre lang fuhr er um
halb sechs in der Früh runter auf
tausend Meter Tiefe, wo er bei
einer Temperatur von 35 Grad
Ketten und Bänder der Bohrer
wechselte. Die Arbeit war hart,
sagt er. Jede Mark musste ver-
dient werden.
Fußballspieler verdienen
mehr Geld als Bergleute. Die
Vereine sind Unternehmen. Sie verkaufen Trikots, Schals,
Bettwäsche und Frühstücksbrettchen und werben mit Slogans
wie »Die Seele brennt«, »Echte Liebe« und »Nur der HSV«.
Ein Millionengeschäft, mit den Fans als Kunden. Leidenschaft
ist ein perfektes Produkt. Es gibt immer Nachfrage, und man
kann nahezu jeden Preis verlangen. Blume sagt, die Leiden-
schaft für seinen Verein bedeute ihm fast alles. Wer tausend
Meter unter der Erde Ketten wechselt, braucht etwas, worauf
er sich freuen kann. Wenn es am Wochenende auf dem Platz
um den Sieg geht, fiebert er mit. Er ist der zwölfte Mann.
Pierre-Michel Lasogga hat Hamburg in diesem Jahr verlas-
sen. Er spielt jetzt in Katar, dort soll er vier Millionen Euro im
Jahr verdienen. Blume ist arbeitsunfähig, weil Ärzte ihm einen
Magenbypass setzen mussten. Dem HSV bleibt er treu.
Der HSV-Spieler Aaron Hunt sagte nach dem Spiel gegen
St. Pauli, seine Mannschaft habe verdient verloren. Der Ver-
ein wird keinen Einspruch gegen die Entscheidung des
Schiedsrichters einlegen. Volker Blume sagt, er wolle weiter-
kämpfen. Für Gerechtigkeit. Max Polonyi

Klare Kiste


Warum ein HSV-Fan aus dem Ruhrgebiet
einen Schiedsrichter anzeigte

Eine Meldung und ihre Geschichte

Blume

Von der Website Mopo.de
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