Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
Gesellschaft

56 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


K


eine halbe Stunde nach ihrer
Wutrede steht Greta Thunberg
in einem Kellerraum des Unicef-
Gebäudes in New York. Die Kli-
maanlage hat den Raum heruntergekühlt,
sie fröstelt und zieht sich ihre blaue Hoo-
die-Jacke an, aber nur so halb, als ob ihr
kalt ist und heiß zugleich.
Gerade hat sie bei der Eröffnungszere-
monie des Uno-Klimagipfels die Staats-
chefs der Welt gefragt, wie sie es wagen
könnten, ihr und ihrer Generation die Zu-
kunft zu stehlen. Greta Thunberg, die
sonst trotz ihrer 16 Jahre so ruhig und ra-
tional auftritt und oft wirkt wie die einzige
Erwachsene im Raum – sie hatte geschrien.
Das hatte sie noch nie getan.
Als sie danach den großen Versamm-
lungssaal in dem berühmten Uno-Haupt-
gebäude verließ, ist sie zufällig Donald
Trump begegnet. Seit knapp vier Wochen
ist sie nun in den USA, in jenem Land, das
sich als einziges aus dem Pariser Klima -
abkommen verabschiedet hat, geführt von
einem Präsidenten, der als einer von we-
nigen Menschen auf der Welt den men-
schengemachten Klimawandel für eine Er-
findung der Chinesen hält. Thunberg hätte,
wie so viele Klimaaktivisten, bei ihren Auf-
tritten in den vergangenen Wochen gegen
Trump wettern können. Doch sie hat ihn
kein einziges Mal erwähnt. Er ist nicht das
Problem. Alle sind das Problem, auch der
nette Barack Obama, mit dem sich Thun-
berg in der Woche zuvor getroffen, oder
die nette Frau Merkel, die kurz nach ihr
gesprochen hatte.
Greta Thunberg ist in den Kellerraum
des Unicef-Gebäudes gekommen, um be-
kannt zu geben, dass sie, gemeinsam mit
15 anderen Jugendlichen aus 12 Ländern,
Beschwerde beim Uno-Kinderrechtsaus-
schuss eingereicht hat gegen die nette Frau
Merkel. Die Jugendlichen werfen der Bun-
desrepublik Deutschland, aber auch Län-
dern wie Argentinien, Brasilien, der Türkei
und Frankreich vor, gegen die Uno-Kin-
derrechtskonvention zu verstoßen, weil
sie nicht genügend gegen den Klimawan-


del täten und ihre Versprechen nicht ein-
hielten. Es ist in diesem Moment nicht
ganz klar, was aus diesem Verfahren folgt,
es geht, so scheint es, vor allem darum,
Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Show-
Act, eine Inszenierung. Um Dinge eigent-
lich, die eher nicht so Greta Thunbergs
Ding sind.
Thunberg kommt als Letzte auf die Büh-
ne, sie steht ganz am Rand, die blaue Jacke
hängt ihr inzwischen nur noch auf den Un-
terarmen, unentwegt nestelt sie daran he-
rum, das Gesicht ausdruckslos. Sie wirkt
wie eine schlecht gelaunte Schülerin, die
hofft, nicht drangenommen zu werden.
Eine 14-jährige Aktivistin aus New York
hält die Einführungsrede, offenbar soll mal

jemand anderes im Mittelpunkt stehen.
Die erste Frage geht trotzdem an sie – an
wen sonst? Warum sie die Beschwerde ein-
gereicht habe und, wenn eine zweite Frage
erlaubt sei, wie sie sich jetzt fühle nach
diesem emotionalen Auftritt vor der Uno.
Das ist natürlich die große Frage. Da
sitzt dieses Mädchen, das zart und jung
und zerbrechlich und dünn aussieht, viel
jünger wirkt als ihre 16 Jahre, und hat ge-
rade eine verstörende Rede gehalten, so
zornig und verzweifelt, den Tränen nahe,
dass man sich auch Sorgen machen kann
um sie. How dare you! Wie könnten die
Politiker es wagen, bei ihr Trost zu suchen?
Mit ihren leeren Worten hätten sie Thun-
berg ihre Träume und ihre Kindheit ge-
stohlen. How dare you? Weiterhin wegzu-
sehen und hierherzukommen und zu sa-
gen, es sei alles okay?
Nichts ist okay.
Einige ihrer Sätze sind schon jetzt, noch
nicht mal eine Stunde nachdem sie gespro-

chen wurden, ikonisch. Auf Twitter und Ins-
tagram stürmen sie um die Welt. Vielleicht
wird sie eines Tages als eine Schlüsselrede
des frühen 21. Jahrhunderts gelten. Vierein-
halb Minuten, die das Gerede von Sach-
zwängen, Verhandlungserfolgen, kleinen
Schritten und Kompromissen als das entlar-
ven, was es ist: Gerede. Die Rede bedeutet
auch eine radikale Umkehr von der Opti-
mismus-Rhetorik vergangener Jahrzehnte:
Nach »I have a dream«, nach »Yes we can«
und nach »Make America great again« mar-
kiert ihr »How dare you« das Ende von Auf-
bruchseuphorie, Fortschrittsglauben und
Machbarkeitspathos, hin zu Besinnung,
Inne halten, Umkehr. Moral statt Pragmatis-
mus, Kontroverse statt Versöhnung.
Ihre Fahrt in die USA, in das Herz der
Finsternis, dürfte sich merkwürdig anfüh-
len für Greta Thunberg. Es ist eine Reise
in das Reich der Erwachsenen und Politiker,
der Schuldigen, die für sie entweder dumm
sind oder böse, wahrscheinlich beides.
Wie merkwürdig muss es sein, Barack
Obama zu treffen. Ein Klimazerstörer wie
alle anderen auch, aber am Ende fragt er
Greta Thunberg, ob sie und er ein Team
wären. Worauf ihr nichts anderes einfällt,
als einfach nur »Yes« zu sagen, während
der ehemalige Präsident ihr die Gettofaust
entgegenstreckt. Oder mit Angela Merkel
zu sprechen, die so interessiert zuhört und
später von einem Weckruf der jungen
Generation spricht, obwohl auch sie eher
redet, statt zu handeln. Oder in der Late-
Night-Talkshow von Trevor Noah aufzu-
treten, wo die Zuschauer über ihre Ant-
worten lachen, als wäre sie eine Komikerin
oder auch nur ein Zirkuspferd, das seine
Nummer aufführt. Oder den Tweet von
Donald Trump zu lesen, der sich lustig
macht über das glückliche Mädchen und
dessen strahlende Zukunft. Oder Applaus
zu bekommen für ihre Wutrede vor der
Uno von ausgerechnet denjenigen, die der
Grund für ihre Wut sind. Verrücktes Ame-
rika, verrückte Welt.
Es gibt ein Schwarz-Weiß-Foto, das Gre-
ta Thunberg vor 13 Monaten zeigt, aufge-

Das Mädchen mit


der roten Pille


ProtestGreta Thunberg ist die Symbolfigur im Kampf gegen den Klimawandel – von vielen als
Erlöserin gefeiert, von anderen als Geisteskranke verspottet. Nach ihrer Rede beim Uno-Klimagipfel

stellt sich die Frage: Kann es sein, dass sie in einer verrückten Welt die einzige Vernünftige ist?


Als wäre sie eine
Komikerin oder auch nur
ein Zirkuspferd, das
seine Nummer aufführt.
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