Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

nommen bei ihrer ersten Demonstration
vor dem Parlament in Stockholm. Sie hat
sich ein Schild gebastelt, »Skolstrejk för
klimatet«. Sie sitzt dort ganz allein vor
dem schönen alten Gebäude.
Am vorvergangenen Freitag waren es
weltweit rund vier Millionen Menschen,
die am Tag des globalen Klimastreiks de-
monstrierten. Vier Millionen, die alle nur
gekommen waren, weil sich ein 15-jähriges
Mädchen vor mehr als einem Jahr allein
auf die Straße gesetzt hat. Ein Jahr, ein
Mädchen, ein paar Auftritte und jeden
Freitag eine Demo, und die Welt fühlt sich
komplett anders an.
13 Monate haben aus einem schwedi-
schen Teenager eine Erlöserin und Wel-
tenretterin gemacht, eine politische Welt-
figur und potenzielle Friedensnobelpreis-


trägerin. Andere sehen in ihr ein nerviges,
neunmalkluges Wunderkind, das Politik
und Klimawandel lieber den Profis über-
lassen sollte. Und für manche dürfte sie
auch eine Bedrohung sein: eine Apokalyp-
tikerin, eine Angstmacherin, die einen mo-
dernen Kinderkreuzzug anführt gegen das
Übel dieser Welt.
Wie auch immer: Es ist eine seltsam ver-
störende Geschichte. Die Frage ist nur, wer
oder was genau hier verrückt ist: das Wir-
ken dieser jungen Frau oder eine aus den
Fugen geratene Welt?
Bei all den Märschen und all den Reden,
bei all ihren Auftritten auf Podien und in
Talkshows hat Greta Thunberg nie einen
Funken Gefühl gezeigt. Man erklärt sich
das mit ihrer Asperger-Erkrankung, von
der sie selbst manchmal spricht, eine

Krankheit, die zum autistischen Spektrum
zählt. Man stellt sich vor, dass sie wie der
»Rain Man« unter einer Art Wahrneh-
mungsglocke steckt und deswegen die Din-
ge nur rational zu beurteilen vermag. Es
ist nicht lange her, dass sie unter Essstö-
rungen litt, unter Depressionen, Panikat-
tacken, dass sie gemobbt wurde unter ih-
resgleichen, dass sie aufhörte zu sprechen.
Ihr Vater Svante Thunberg, ein Schauspie-
ler, gab seinen Job auf, um seiner Tochter
zu helfen. Ihre Mutter, eine Opernsänge-
rin, hat ein Buch über diese Zeit geschrie-
ben. Die Geschichte des Buchs ist schnell
erzählt: Ihre Tochter ist krank, die Schwes-
ter auch und sogar die Mutter, weil die
Welt krank ist.
Insofern ist der Protest auch Therapie.
In Gretas Fall sogar eine ziemlich erfolg-

58 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Umweltschützerin Thunberg in New Yorker U-Bahn: »Bevor ich mit dem Schulstreik begonnen habe, hatte ich keine Energie«
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