Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

reiche. Auf Twitter schrieb sie: »Bevor ich
mit dem Schulstreik begonnen habe, hatte
ich keine Energie, keine Freunde und habe
mit niemandem gesprochen. Ich saß bloß
allein zu Hause mit einer Essstörung. Alles
das ist jetzt weg, seitdem ich einen Sinn
gefunden habe in einer Welt, die vielen
Menschen flach und bedeutungslos er-
scheint.«
Ihre Krankheit kann auch eine Art
Schutz sein. Wer nur begrenzt erfahren
kann, was um ihn herum geschieht, wer,
wie Menschen mit Asperger-Syndrom, nur
Schwarz und Weiß registriert und die un-
endlich vielen Graus unserer Realität aus-
schaltet, kann sich schützen vor zu viel
Komplexität. Vor zu viel Aufregung. Und
Chaos. Und tun, was andere 16-Jährige
nicht tun: der Welt die Wahrheit sagen. In-


sofern liegt in ihrem Ausbruch etwas Be-
freiendes und auch Beunruhigendes zu-
gleich.
Normalerweise hat Thunberg zu allen
Themen, zu denen sie üblicherweise ge-
fragt wird (Warum machst du das? Wir war
die Überfahrt? Was ist deine Botschaft an
die Politiker?) einen oder zwei Standard-
sätze als Antwort. Sie hat keinen Ehrgeiz,
originell zu erscheinen. Es muss nur richtig
sein und präzise. Auf die Frage nach der
Kinderrechtsbeschwerde sagt sie an diesem
Vormittag am vergangenen Montag in New
York also: »Vor 30 Jahren wurde die Kin-
derrechtskonvention unterschrieben, und
die Staatschefs haben nicht gehalten, was
sie versprochen haben.« Dann schiebt sie
das Mikrofon von sich weg.
Und wie fühlt sie sich persönlich nach
dieser Rede?
»Ich glaube«, sagt Thunberg einer 30 Jah-
re älteren Journalistin, »das gehört nicht
hierher.«
Kurz ist Verblüffung im Raum, dann an-
erkennendes Lachen, schließlich jubelnder
Applaus. Richtig so! Es geht ja nicht um
ihre Befindlichkeiten, es geht um nichts
Geringeres als die Rettung der Welt.
Es sind Thunbergs Widersprüche, die
sie so schillern lassen – aus Stärke und Ver-
letzlichkeit, aus kindlichem Aussehen und
ultraerwachsenem Verhalten, aus Schüch-
ternheit und Furchtlosigkeit und ihrem un-
nachgiebigen Einsatz bei gleichzeitiger
Aussichtslosigkeit ihres Anliegens. Bei den
Buchmachern ist sie momentan Favoritin
für den Friedensnobelpreis mit einer Quo-
te von 1,25:1. Die nächstbeste Kandidatin
hat eine Quote von 11:1.
Sie wurde mit Jeanne d’Arc verglichen,
der Revolutionärin, doch der Vergleich
stimmt nicht. Thunberg tritt für nichts Ra-
dikales ein, im Gegenteil. Ihre Forderun-
gen sind fast bieder. Sie verlangt, dass Ver-
träge wie das Pariser Abkommen einge-
halten werden und Zusagen gelten; dass
wissenschaftliche Befunde und Projektio-
nen ernst genommen werden.
Es gibt keine Klimadebatte. Die Projek-
tionen unterscheiden sich in den Details
ihrer Grausamkeit, aber nicht in ihrem
Kern. Der Kern ist: Die Erderwärmung
liegt momentan bei ungefähr einem Grad
Celsius. Behalten wir den aktuellen CO
²


  • Ausstoß bei, ist mit einem Anstieg auf
    etwa zwei Grad Celsius schon bis 2050 zu
    rechnen. Das hätte katastrophale Folgen,
    steigende Meeresspiegel, steigende Tem-
    peraturen, Dürren und unkalkulierbare


Extremwetter, versteppende Landschaften.
Im Pariser Abkommen von 2015 haben
sich fast alle Staaten der Welt dazu ver-
pflichtet, die Erderwärmung »deutlich un-
ter zwei Grad Celsius« zu halten. Der Welt-
klimarat hat in einem Sonderbericht dar-
gelegt, wie groß bereits die Veränderungen
wären, wenn die globale Erwärmung mehr
als 1,5 Grad erreichte. Um diesen Wert ein-
zuhalten, müsste der CO
²
-Ausstoß bis
2030 halbiert werden und bis spätestens
2055 auf null sinken.
Dass das passiert, ist nahezu ausge-
schlossen.
In dieser Situation erscheint der Welt
ein beschädigtes Kind. Es ist verhaltens-
auffällig, aber klug. Nichts von dem, was
sie sagt, ist angreifbar. Es ist nur ein biss-
chen merkwürdig. Wenn man mit Thun-
berg in den USA unterwegs ist, trifft man
bei allen Veranstaltungen auf ein Publi-
kum, das einerseits zur aufgeklärten, libe-
ralen Elite des Landes gehört und sich an-
dererseits nicht zu schade ist, alle Hoffnun-
gen auf Rettung in die Hände eines Kindes
zu legen. Thunberg lehnt das angewidert
ab. »You all come to us young people for
hope? How dare you!«

Die Erlösungsgeschichte begannschon
damit, dass Greta Thunberg mit dem Se-
gelboot aus Europa kam. Der Retter, der
mit dem Schiff kommt, ist eine der ältesten
christlichen Erlösungsallegorien. Ende Au-
gust war sie in den Hafen von Manhattan
eingelaufen, viele Klimaaktivisten warte-
ten schon auf sie, und es dauerte ewig, bis
das Boot schließlich anlegte. Greta und
ihre Crew um den Skipper Boris Herr-
mann und den monegassischen Prinzen
Pierre Casiraghi mussten auf den richtigen
Wind warten, um endlich anzulegen. Die
Einsamkeit und Abgeschiedenheit, hat
Thunberg erzählt, seien toll gewesen, nur
sie selbst und das Meer.
Thunberg war nun in jenem Land ange-
kommen, das ihrem Ziel, die Welt vor der
Klimakatastrophe zu bewahren, im Wege
steht wie kein anderes. Der durchschnitt-
liche Amerikaner stößt im Jahr rund 16 Ton -
nen Kohlendioxid aus, ein Deutscher 9,
ein Schwede 4,5 und ein Bangladescher
etwa 0,5.
Zwei Tage nach ihrer Ankunft ging
Thunberg gleich demonstrieren, denn es
war wieder Freitag. Von den zwei Freita-
gen auf dem Schiff abgesehen, hat sie in
den vergangenen 13 Monaten keine Demo
ausgelassen.
Vielleicht war die Schiffsfahrt doch kräf-
tezehrender als angenommen, jedenfalls
wirkt Thunberg apathisch. Drei Stunden
lang scheint sie niemanden wahrzuneh-
men, spricht kein Wort. All diese Men-
schen sind ihretwegen gekommen, aber
die Erlöserin ist nicht ansprechbar. Die
amerikanischen Aktivisten versuchen das

59

JOEL MARKLUND / WITTERS

Wo wir Urlaub machen,
würde sie das vergiftete
Meer und die steigenden
Fluten erkennen.
Free download pdf