Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Verhalten ihrer Anführerin zu überspielen,
denn für Unpässlichkeit gibt es in der
amerikanischen Leistungslogik keinen
Platz. Vielleicht ist sie auch nur schockiert
von dem Andrang und dem Geschubse.
Überallhin folgt ihr eine »Greta«-brüllen-
de Traube aus Kameraleuten und Fotogra-
fen, Bloggern und Journalisten, sodass
ihre Leute eine Menschenkette um sie
bilden müssen.
Fast wirkt es so, als wäre sie ein Popstar,
der Amerika erobern will. »I want you to
panic«, der Satz, den sie Anfang des Jahres
in Davos sagte, wäre in dieser Logik ihre
erste Single. »How dare you!« nun die
zweite. Tatsächlich hat sie schon zusam-
men mit der britischen Indie-Rockband
The 1975 einen Song aufgenommen, der
im Juli erschienen ist. Über Synthesizer-
Klängen spricht sie davon, dass es Zeit sei
zu handeln: »It is time to rebel«. Die Erlö-
se fließen an die militanten Klimaschützer
von Extinction Rebellion, die erst vorver-
gangene Woche bei dem Versuch scheiter-
ten, den Flughafen London Heathrow mit-
tels Drohnen lahmzulegen.
Natürlich ist Greta Thunberg kein Pop-
star, aber die Jugendlichen, die sie heute
zum Vorbild erkoren haben, sind aufge-
wachsen mit den Superheldenfilmen des
modernen Hollywood. Filmen, in denen
die Welt gerettet werden muss, von un-
glücklichen, unerlösten Figuren, von Ver-
sehrten und Verletzten, die aber mit einer
besonderen Gabe ausgestattet sind, um
das Böse zu bekämpfen.
In diesem Marvel-Universum wäre Gre-
ta Thunberg »Die Seherin«, weil sie die
Gabe hat, die Welt so zu sehen, wie sie
ist. Wo wir uns ins Auto setzen, um in ein
Restaurant zu fahren, würde sie das CO
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und das tote Tier auf den Tellern sehen.
Wo wir Urlaub machen, würde sie das ver-
giftete Meer und die steigenden Fluten er-
kennen. Die Seherin, das ist die Dialektik
der Superhelden, weiß mehr als die ande-
ren, aber sie muss den Schmerz, den die-
ses Wissen bedeutet, auf ihre Schultern
nehmen. Der Glaube, die Wahrheit zu
kennen, die von den Mächtigen unter-
drückt wird und den Spießern zu unbe-
quem ist, das ist ein altes Motiv der Ge-
genkultur.
In dem Science-Fiction-Film »Matrix«,
einem Klassiker des modernen Holly-
wood, soll sich der Held Neo entscheiden
zwischen einer roten und einer blauen Pil-
le. Die blaue Pille würde es ihm erlauben,
in seiner bequemen Wohlstandswelt zu
bleiben. Die rote Pille würde ihm zeigen,
wie die Welt wirklich ist. Greta Thunberg
hat die rote Pille genommen.
Am dritten Freitag ihrer Amerikareise
demonstriert sie in Washington vor dem
Weißen Haus. Diesmal sind es nur einige
Hundert Demonstranten, junge Leute, Ak-
tivisten. Diesmal schafft sie es, ein paar


Worte durch ein Megafon an sie zu richten.
Sie sagt, dass sie doch schon alles gesagt
habe. Und dass sie stolz sei auf jeden, der
gekommen sei. »Gebt niemals auf«, appel-
liert sie und setzt sich einfach hin.
Dann will sie einfach nur noch weg, aber
die Leute folgen ihr, Kinder und Fotografen
und Kameraleute. An der Kreuzung Madi-
son Place und Pennsylvania Avenue, auf
der anderen Seite des Weißen Hauses,
rennt Greta Thunberg los. Es ist eine Flucht.
Sie ist plötzlich das kleine Mädchen, das
einfach nur wegwill. Wie könnt ihr es wa-
gen, eure Hoffnungen in mich zu setzen?
Ein paar Tage später soll sie vor dem
Klimakrisen-Ausschuss des Repräsentan-
tenhauses sprechen. Vor den Männern und
Frauen, die die Gesetze machen. Gesetze,
die bisher kaum dazu beigetragen haben,
das Klima zu retten. An diesem ziemlich
heißen Septembernachmittag aber sagt
Greta Thunberg eigentlich: nichts.
Bill Keating heißt der Vorsitzende des
Ausschusses. Er sitzt seit acht Jahren im
Kapitol und ist 67 Jahre alt, er wirkt ganz
sympathisch, ein Demokrat aus Massachu-
setts, aber er nennt sie durchgängig »Ms.
Toonberry«. Als er ihr das Wort erteilt,

sagt sie, sie habe genug geredet. Stattdes-
sen habe sie etwas mitgebracht. Die Poli-
tiker sollten nicht ihr zuhören, sondern
den Wissenschaftlern.
Der Haufen Papier, den sie unter dem
Arm hat, ist jener berühmte Report SR 1.5
des Weltklimarats, der vergangenes Jahr
herausgekommen ist. Es ist der bisher alar-
mierendste Befund zur Klimalage, dessen
Seriosität nicht infrage steht.
Da steht alles drin, was die Politiker wis-
sen müssen, um zu handeln.
Keating fragt nach. Warum ist es so
wichtig, auf die Wissenschaft zu hören?
Thunberg versteht nicht. Sie guckt ver-
zweifelt. Fast flehend sagt sie: »Weil es
selbstverständlich sein sollte, auf die Wis-
senschaft zu hören! Es ist die Wissen-
schaft!«
Der Bericht klingt niederschmetternd.
Eigentlich bedeutet er: Leute, es ist zu spät.
Die Maßnahmen, die ergriffen werden
müssten, wären zu krass.
»Politik ist das, was möglich ist«, das
sagte Angela Merkel bei der Vorstellung
ihres Klimapakets in Berlin. Was auch eine
Antwort ist auf Greta Thunberg: radikale,
sofortige Transformation sei, das bedeutet
Merkels Satz, unpolitisch, unrealistisch,
utopisch.

Aber was, wenn es genau umgekehrt
wäre: wenn nicht Greta Thunberg die
Träumerin und Utopistin wäre, sondern
Politiker wie Merkel oder Keating, Obama
oder Macron, die darauf hoffen, dass in
naher oder ferner Zukunft uns schon noch
etwas einfallen wird? Was, wenn in Wahr-
heit die Klimajugendbewegung die konser-
vativste Rebellion gegen die Obrigkeit ist,
die diese Welt je gesehen hat? Die Verän-
derungen, die nötig sind, um die Zukunft
zu meistern, werden radikal sein müssen;
dies anzuerkennen, kann man durchaus
vernünftig finden. Radikal vernünftig.
Thunbergs Auftritt in Washington ist
der einer Realpolitikerin. Keine Reden
über vermeintliche Utopien, stattdessen
versorgt sie wie eine gute Referentin die
Politiker mit der notwendigen Lektüre.
Mit dem Hinweis auch auf einen sehr
real politischen Widerspruch: dass es un-
möglich ist, die Klimakatastrophe zu
ver hindern, solange das Wirtschaftswachs-
tum der einzige Gradmesser für mensch-
liches Wohlergehen ist.
Thunberg kann nerven, ihr stoisches
Greta-Thunberg-Gesicht, ihre etwas spät-
pubertär anmutende Rechthaberei, ihre
skandinavische Erweckungsaura, aber sie
ist auch eine unangenehme Gegnerin.
Ihre Anklagen sind aggressiv formuliert,
aber jeder, der versucht, sie zu stellen, er-
scheint als Aggressor, der ein minderjäh-
riges Mädchen attackiert. Mal davon ab-
gesehen, dass der asketische, auf Verzicht
und minimalen Kohlendioxid-Ausstoß ge-
trimmte Lebenswandel Thunbergs längst
schon das tief schlummernde, schlechte
Gewissen des aufgeklärten Großstädters
bedient. Wer also will widersprechen,
wenn sich eine 16-Jährige vom Vielflieger
und SUV-Fahrer um ihre Zukunft betro-
gen fühlt?
Genau 57 Wochen nachdem sie sich erst-
mals allein mit ihrem Schild vors schwedi-
sche Parlament gesetzt hat, kauert sie in
einem weißen Zelt hinter einer enormen
Bühne im Battery Park an der Südspitze
Manhattans. Wenn sie aus dem Zelt heraus
nach oben blickt, kann sie den Turm des
neuen World Trade Center sehen. Es ist
ein Mahnmal, das daran erinnern soll, dass
Amerika auch angesichts der größten Ka-
tastrophe nicht aufgibt, niemals.
Eine Viertelmillion Menschen, sagen die
Organisatoren, stehen da draußen vor der
Bühne und in den umliegenden Straßen.
Angemeldet hatten sie 5000. Auf der Büh-
ne singen die Kinder des Schauspielers
und Sängers Will Smith, Jaden und Willow,
ihren Hit »Summertime in Paris«, sie sind
gewissermaßen das Vorprogramm für Gre-
ta. Es ist Partystimmung, obwohl ja die
Welt bald untergehen wird.
In dem Zelt hinter der Bühne haben sich
wie immer alle um Greta Thunberg ge-
schart, auch ihr Vater ist da, der sie schon

60 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Gesellschaft

»Warum sollten
wir für eine Zukunft
lernen, die uns
genommen wird?«
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