Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
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auf dem Segelboot begleitet hat. Er ver-
sucht, mit seiner Tochter zu reden. Greta
macht seltsam wischende Bewegungen mit
ihrer Hand, es ist nicht ganz klar, was sie
meint. Als sie kurz darauf auf der Bühne
steht, fragt sie: »Warum sollten wir für eine
Zukunft lernen, die uns genommen wird?«
Eine große Show, ein Riesentheater.
Aber irgendwie liegt ein Schleier der Ver-
geblichkeit über dem Battery Park. Im
»New Yorker« hatte der Schriftsteller Jo-
nathan Franzen, einer der bedeutendsten
Autoren Amerikas, gerade einen großen
Artikel über den Klimawandel veröffent-
licht. Er heißt: »Was, wenn wir aufhören,
so zu tun, als ob?«
Franzen schreibt, dass der Kampf gegen
den Klimawandel realistischerweise nicht
mehr zu gewinnen, die Katastrophe nicht
mehr abzuwenden sei. Und womöglich
könnte es befreiend sein, so Franzen,
sich dies einzugestehen und aufzuhören,
so zu tun, als würde noch hart daran ge -
arbeitet, den Klimawandel aufzuhalten.
Franzens Romane haben stets einen re -
signativen, melancholischen Schlag, aber
gute Schriftsteller haben die Gabe, die
Schwingungen der Gegenwart besser zu
verstehen als andere. »Man kann«, schreibt
Franzen, »weiterhin hoffen, dass die Ka-
tastrophe abzuwenden ist, und dabei im-
mer frustrierter und wütender werden
über die Untätigkeit der Welt. Oder man
kann akzeptieren, dass das Desaster
kommen wird, und damit anfangen, neu
zu überlegen, was es bedeutet, Hoffnung
zu haben.«
Es ist zu spät. Es ist vorbei. Keine Chance
mehr, das schreibt Franzen. Aber ist eine
Gesellschaft, die nicht mehr an eine bes-
sere Zukunft glaubt, nicht verloren?
Franzens Vorschlag, sich die kommende
Ausrottung einzugestehen, scheint einer
gesunden menschlichen Psyche schwer
möglich. Es hieße ja auch, dass wir tatsäch-
lich verrückt wären. Wir können es zwar
denken, aber es gelangt nicht ins Bewusst-
sein. Weil wir, um Hoffnung zu haben, uns
schützen müssen vor zu viel Wahrheit und
Erkenntnis und roten Pillen.
So flüstert uns unser blaues Bewusstsein
zweierlei zu, bei dem einen mehr, bei dem
anderen weniger: alles kein Weltunter-
gang, es kommt, wie es kommt, weiterma-
chen, es wird schon werden, solche Dinge.
Und das Zweite, gewissermaßen daraus
folgend: Vielleicht ist Greta Thunberg ja
doch verrückt.
Lothar Gorris, Philipp Oehmke,
Tobias Rapp, Kurt Stukenberg

http://www.dva.de

304 Seiten, gebunden · € 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich

JAKOB AUGSTEINS


KULT-


KOLUMNEN


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Jakob Augstein gehört zu den meistgelesenen
und einflussreichsten Journalisten der Gegenwart.
Unter dem Motto »Im Zweifel links« hat er
in seinen Kolumnen auf SPIEGEL ONLINE beinahe ein
Jahrzehnt lang eine Chronik unserer Zeit verfasst.
Für dieses Buch hat er seine streitbaren Texte thematisch
zusammengestellt und neu kommentiert.
Video
Unterwegs mit Greta
in New York
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