Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
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I


n der vorigen Woche führte ich ein Gespräch mit dem
Ehepaar Friedrich, das die »Berliner Zeitung« gekauft
hat. An einer Stelle sagte der Mann: »Ich bin eher Inge
Pawelczik als Heidegger.« Ein Satz, der in sieben Wörtern
eine deutsche Biografie beschreibt, ohne dass das Wort
Deutschland überhaupt vorkommt. Ich fand ihn gut, aber
er schaffte es nicht in das Interview, das ich für den SPIEGEL
führte. Man hätte erklären müssen, wer Inge Pawelczik ist.
Und das wäre eine ziemlich lange Erklärung geworden in
einem Gespräch. Klammer auf: Inge Pawelczik ist die Heldin
eines Liedes der Berliner Rockgruppe Pankow aus dem Jahr


  1. Es beschreibt den Morgen nach einem One-Night-
    Stand. Es gibt die Zeile »Mach’s gut, Inge Pawelczik, du
    wilde Wahnsinnsmaus. Wir haben
    die ganze Nacht geliebt in deinem
    Hinterhaus.« Und auch die Zeilen:
    »Wir müssen jeder in ’ne andere
    Stadt, zur Arbeit gehen. Mach’s
    gut, vielleicht werden wir uns
    irgendwann wiedersehen.« Das
    Lied hat den Realismus in die
    ostdeutsche Rockmusik gebracht,
    in der es bis dahin vor allem un -
    begreifbare Metaphern gegeben
    hatte. Rosen. Brücken. Schwäne.
    Asche. Drachen. Klammer zu.
    Heidegger hätte man nicht erklä-
    ren müssen, obwohl er viel kom-
    plizierter ist als Inge, die Wahn-
    sinnsmaus.
    Ich bin dann eine Woche lang
    durch Deutschland gereist, schlief
    jede Nacht in einer anderen Stadt,
    und je länger ich fuhr, desto mehr
    rumpelte der verlorene Satz in mei-
    nem Kopf. In meinem Hotelzim-
    mer in Leipzig fiel mir ein, wie ich
    hier Ende der Achtzigerjahre den Pankow-Song »Er will an-
    ders sein« mitgebrüllt habe. Die Band spielte an einem Ver-
    anstaltungsort, der »Die Tonne« hieß. »Ihr wollt anders sein«,
    schrie uns der Sänger André Herzberg entgegen. In meiner
    Erinnerung dampfte der Saal. Natürlich wollte ich anders
    sein. Am nächsten Tag, im Seminar für politische Ökonomie,
    war ich dann wieder derselbe. Fast.
    Im Sommer lief auf meinem Lieblingsradiosender eine
    Hitparade der 100 besten Ostsongs. Es war ein Sonntag, an
    dem ich von Tel Aviv nach Berlin flog. Als ich ins Flugzeug
    einstieg, spielten sie gerade Wolf Biermann: »Warte nicht
    auf bessere Zeiten«, als ich das Handy in Berlin wieder ein-
    schaltete, kam Manfred Krug. »Das war nur ein Moment.«
    Gewonnen hat dann City mit »Am Fenster«, ein Lied mit
    einem Text, den ich auch nach 40 Jahren nicht verstehe.
    Jeder hat seine Erinnerungen, aber die Hitparade schien mir
    eher für Ostler gemacht worden zu sein als von Ostlern.
    An anderen Sommersonntagen spielten sie die besten Som-
    mersongs und die besten Coversongs, aber natürlich gab es
    nicht die besten Westsongs. Unter den zehn besten Berlin-
    songs, die vor zwei Jahren ermittelt wurden, war keine ein-


zige Ost-Berliner Band, aber David Bowie zweimal, Iggy
Pop, Leonard Cohen, Ton Steine Scherben sowie eine West-
Berliner Punkband namens PVC.
Ich fuhr mit dem ICE nach Frankfurt am Main. Spätabends
aß ich mit ein paar netten Menschen im Literaturhaus der
Stadt. Bis auf eine Cottbuserin kamen alle aus dem Westen,
über mir hing ein großes Porträt von Samuel Beckett. Er trug
einen Rollkragenpullover. Draußen brannte die Welt, in Lon-
don, in New York, in Teheran. Eintracht Frankfurt hatte eben
gegen Arsenal verloren. Ich erzählte trotzdem von Inge Pa-
welczik. Wie sich herausstellte, war der Leiter des Literatur-
hauses in seiner Jugend ein großer Pankow-Fan. Er stammte
aus Schwedt und reiste im Alter von 14 Jahren in den Westen
aus. Nach Hannover. Er versuchte, seine niedersächsischen
Mitschüler für die Band zu begeistern. Einmal nahm er einen
Kumpel mit auf ein Fest der DKP, bei dem Pankow auftrat.
Der Junge, der gerade ausgereist war, ging zu den west-
deutschen Kommunisten, um seine Band zu sehen. Der
Literaturchef der »FAZ«, der auch mit am Tisch saß, sagte,
dass er sich 1988, im Westen, »Aufruhr in den Augen« ge-
kauft habe. Die vielleicht berühmteste Pankow-Platte, auf
der es auch einen ihrer größten Hits gibt: »Langeweile«.
Erstaunlich, dass mir das so viel
bedeutete.
Dann, in Berlin, sah ich auf den
Bürgersteigen rote Quadrate, die
an den Herbst vor 30 Jahren
er innern sollen. Links steht »Auf-
bruch 1989«, rechts »Erinnern
2019«. Es gibt einen Code, den
man scannen kann, um sich vor-
führen zu lassen, was an dieser
Stelle der Stadt damals passiert
ist. Es ist ein Kunstprojekt, die
Quadrate heißen »Bodenzeichen«,
und wenn ich nicht aufpasse, ver-
wandle ich mich selbst in eines,
dachte ich. Man braucht mich nur
anzustupsen, und ich fange an,
vom Osten zu erzählen.
Am vorigen Wochenende traf
ich den Regisseur Andreas Dresen
am Rande einer Lesung nördlich
von Berlin. Wie ich bemüht sich
Dresen darum, die ostdeutsche
Rockmusik in ganz Deutschland
bekannt zu machen. Er hat einen schönen Film über den Mu-
siker Gerhard Gundermann gedreht, der auch im Westen
Deutschlands gut ankam. Er bekam den Bundesfilmpreis in
sechs Kategorien. Gundermann hat eine Entwicklung durch-
gemacht, er hat am Silly-Song »Die verlorenen Kinder« mit-
geschrieben, vor allem aber ist er tot. Nur ein toter Indianer
ist ein guter Indianer, meinte Generalleutnant Philip Sheridan.
Auch Sigmund Jähn wurde in der vergangenen Woche mit
viel gesamtdeutscher Liebe bedacht. Unser toter Kosmonaut.
Es war ein schöner Herbstabend, die Lesung fand in der
Garage des Rammstein-Keyboarders Flake statt, die Texte
waren alle sehr lustig, es lag eine angenehme Energie im
Raum. Die meisten Gäste waren Ostler, aber kaum jemand
jammerte. Ich redete mit Dresen über Israel, Amerika, sein
nächstes Filmprojekt, mein letztes Buch und die neuen Besit-
zer der »Berliner Zeitung«. Dresen spielt in einer Hobbyband
mit dem Pankow-Gitarristen Schlagzeug. Ich erzählte ihm,
dass es Inge Pawelczik nicht in den SPIEGELgeschafft hat.
»Nein!«, sagte Dresen. »Die musst du wieder reinschreiben,
Alexander. Unbedingt.«
Okay, Andi. Hier. 

Wahnsinnsmaus


LeitkulturAlexander Osang über vergessene
ostdeutsche Lieder

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Gesellschaft

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
»Bodenzeichen« in Berlin
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