Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

B


arbara Maier* wollte alles richtig
machen, als ihr Bruder vor ei-
nem Jahr aus der Klinik entlassen
wurde. Auf keinen Fall wollte sie,
dass er weit weg in einem Heim versorgt
wird. Er sollte zu Hause leben, im thürin-
gischen Bad Salzungen, damit schnell mal
jemand aus der Familie vorbeischauen
kann, um seine Hand zu halten oder ihm
über die Stirn zu streicheln.
Sie machte sich auf die Suche nach ei-
nem Pflegedienst, der ihren Bruder rund
um die Uhr zu Hause betreuen konnte.
Nach Profis, die wissen, was zu tun ist. Et -
wa wenn er keine Luft mehr bekommt,
weil die Kanüle in seinem Hals verstopft
ist, und nur 60 Sekunden bleiben,
bevor er erstickt.
Maiers Bruder Ralph*, 55, benö-
tigt Intensivpflege, weil ihn an einem
Sommertag vor drei Jahren eine
Wespe in den Arm gestochen hat. Er
war Bademeister und stand am
Beckenrand des Freibads, als ihm
schwindlig und schlecht wurde. Ein
Kollege fand ihn später zusammen-
gebrochen auf der Toilette. Der Not-
arzt reanimierte ihn. Ein allergischer
Schock hatte sein Herz stillstehen
lassen, das Gehirn wurde dabei ge-
schädigt. Seitdem kann er sich nicht
mehr bewegen, nicht mehr sprechen,
nicht mehr selbstständig essen.
Barbara Maier fand schließlich
einen Anbieter aus Erfurt: Nemo -
pflege. Vom Medizinischen Dienst
der Krankenkassen (MDK) hatte die
Intensivpflegefirma die Note 1,3 be-
kommen, so stand es im öffentlichen
Transparenzbericht im Internet. »Darauf
habe ich mich verlassen«, sagt Maier.
Sie ahnte nicht, an wen sie da geraten
war. Das Unternehmen schickte ihr zwei ru-
mänische Pflegerinnen, die kaum Deutsch
sprachen. Im Ernstfall einen Notarzt ru-
fen? »Das hätten beide nicht gekonnt«,
sagt Maier. Je mehr sie erfuhr, desto gru-
seliger wurde es: Für den lebensgefähr -
lichen Umgang mit der Kanüle im Hals
waren die angeblichen Profis nicht aus -
gebildet.
Dabei bezahlte die Unfallkasse rund
29 Euro pro Stunde für vermeintlich qua-


  • Name geändert.


lifizierte Pflegefachkräfte. Insgesamt
knapp 20 000 Euro im Monat.
Inzwischen weiß Maier, dass Nemo -
pflege auch an anderer Stelle auffällig
geworden ist: Seit Ende Februar ist die
Firma ein Fall für die Staatsanwaltschaft
Meiningen. Sie ermittelt wegen des Ver-
dachts auf Abrechnungsbetrug. Die AOK
Plus in Thüringen und Sachsen hatte An-
zeige erstattet.
Der Vorwurf: Der Pflegedienst habe bei
den Krankenkassen teure Pflegefachkräfte
abgerechnet, tatsächlich aber lediglich bil-
liges Hilfspersonal eingesetzt, dem es an
der nötigen fachlichen und sprach lichen
Kompetenz fehlte. Auch andere Kassen

soll Nemo offenbar auf die gleiche Tour
geschröpft haben.
Der Betrug von Pflegefirmen an hilflosen
Patienten ist eine Massenerscheinung. Gegen
35 der 120 Intensivpflegedienste, mit denen
allein die AOK Bayern zusammen arbeitet,
ermitteln die Staatsanwälte. Bei der Hälfte
der Anbieter hat die AOK Hinweise auf Auf-
fälligkeiten bei der Abrechnung. Auch in
Nordrhein-Westfalen, Berlin und Nieder-
sachsen häufen sich die Fälle. »Früher wa-
ren Drogen und Prostitution das große
Geschäft, heute ist es der Pflege betrug«,
sagt Staatsanwältin Ina Kinder, die in Ber-
lin für Pflegekriminalität zuständig ist.
Für Betrüger ist vor allem die ambulan-
te Versorgung – also außerhalb von Pflege -

heimen – ein dankbares Feld: Klare Regeln
gibt es kaum, noch weniger Kontrollen,
dafür umso mehr Geld. Der Markt für am-
bulante Pflege hat sich in den vergangenen
zehn Jahren auf 20 Milliarden Euro pro
Jahr verdoppelt. Einen großen Anteil hat
die Intensivpflege lebensbedrohlich Kran-
ker in sogenannten Pflege-WGs oder zu
Hause. Für diese Patienten zahlen Kassen
monatlich bis zu 30 000 Euro. Abgezockt,
so will es die Logik des Marktes, wird des-
halb am ehesten dort, wo Menschenleben
in Gefahr sind.
In allen Bereichen der ambulanten Pfle-
ge er gaunern Betrüger schätzungsweise
zwei Milliarden Euro jedes Jahr. Insge-
samt, schätzt Bayerns Innenminister
Joachim Herrmann (CSU), ziehen
Kriminelle jährlich 14 Milliarden
Euro aus dem Gesundheitswesen ab.
Wer der Frage nachspürt, warum
es Betrügern so einfach gemacht
wird, obwohl es um die Würde der
schwächsten Mitglieder der Gesell-
schaft geht, der bekommt tiefe Ein-
blicke in ein System, in dem sich die
Beteiligten willfährig ausnehmen
lassen oder selbst mitspielen.
Da schieben Krankenkassen selbst
Diensten, die wegen Betrug verurteilt
wurden, weiter Patienten zu – weil
sie keine anderen Anbieter finden.
Da lassen Angehörige ihre Pflege -
firma gewähren, aus Angst, plötzlich
ganz ohne Hilfe dazustehen. Da fehlt
es Behörden, Staatsanwälten und
Ermittlern an Ressourcen und Kom-
petenz, um sich durch den Pflege-
dschungel zu kämpfen. Es gibt Pflegefirmen,
die zu tricksen beginnen, weil sie kein qua-
lifiziertes Personal mehr bekommen, sosehr
sie sich auch mühen. Und solche, die gewis-
senlos auf Kosten des Gemeinwesens ein
Millionenvermögen anhäufen.
Der Pflegenotstand verschärft das Pro-
blem: Bundesweit werden im Jahr 2030
rund 130 000 Fachkräfte fehlen, davon
allein 30 000 in der häuslichen Pflege. Wer
als Angehöriger nach einem Pflegedienst
sucht, ist oft froh, überhaupt jemanden ge-
funden zu haben, der Opa, Bruder, Mutter
betreut. Der Mangel macht Familien und
Kassen erpressbar.
2016 ließen Ermittler in Düsseldorf
eine russisch-ukrainische Pflegemafia auf-

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Wirtschaft

Der Feind an meinem Bett


SkandaleUnter den häuslichen Pflegediensten gibt es etliche Betrüger. Sie setzen


unqualifizierte Hilfskräfte ein, rechnen überteuerte Stundensätze ab.
Ein Milliardenbetrug an den Kassen – und ein Spiel mit dem Leben schwer kranker Menschen.

2,0 2,1 2,1

2,3 2,3

2,5 2,6

2,9

3,4


4,1


5,4


2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017

Auf Hilfe angewiesen
Pflegebedürftige in Deutschland,
in Millionen

Alle Pflegestufen und Pflegegrade
Quellen: Statistisches Bundesamt,
Bundesinstitut für Bevölkerungs-
forschung

Prognose 2030 2050

Illustrationen: Frank Höhne für den SPIEGEL
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