Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1
fliegen, die mit falschen Abrechnungen
mindestens 4,7 Millionen Euro erbeutet
hatte. Es folgten Ankündigungen des da-
maligen Bundesgesundheitsministers
Hermann Gröhe (CDU): Die Politik wer-
de die Gesetze verschärfen und mehr
Ressourcen bereitstellen, um der Krimi-
nalität in der Pflege mit aller Macht bei-
zukommen.
Doch den großen Wurf ist die Politik bis
heute schuldig geblieben. Zwar prüft seit
2016 der Medizinische Dienst der Kran-
kenkassen die Abrechnungen der Pflege-
dienste. Aber mehr als einen Anfangs -
verdacht konnten die MDK-Prüfer bislang
selten liefern, wenn überhaupt. Systema -
tischen Betrug entlarven sie fast nie.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) hat das Thema nun für sich ent-
deckt – er will »Fehlanreize und Miss-
brauchsmöglichkeiten« beseitigen. Spahns
Vorschlag: Intensivpflegepatienten sollen
künftig nicht mehr zu Hause, sondern in
der Regel stationär oder in WGs unter -
gebracht werden, weil sich die Qualität
dort besser kontrollieren lasse. Das klingt
nicht nach einer Lösung, sondern nach
Kapitulation.

Der Fall Nemopflege
Ein Nachmittag im November 2018. Ralph
Maier liegt in seinem Spezialrollstuhl im
Wohnzimmer seines Elternhauses. An der
Wand über dem Sofa hängen Fotos aus
unbeschwerten Tagen. Sein Motorboot.
Die Tochter, als Baby auf seinem Schoß.
Seine Frau im Brautkleid, er trägt sie auf
den Armen.
Immer wieder verschluckt er sich, ringt
nach Luft. Seine Schwester streichelt ihm
über den Kopf, hält seine Hand, damit er
sich beruhigt. »Atmen, Ralph, ruhig at-
men«, sagt sie. In seinem Hals steckt die
Kanüle, durch die er Luft bekommt.
An diesem Nachmittag hat Monika
Dienst. Die Rumänin trägt ein türkisfarbe-
nes Hemd, darauf lächelt ein kleiner
»Nemo«-Fisch. Ihre Haare hat die Pflege-
rin zum Pferdeschwanz gebunden. Sie ist
müde, dabei liegt ihre Nachtschicht an die-
sem Tag noch vor ihr.
Einige Monate hat sie Ralph Maier da
bereits gepflegt. Und doch weiß sie: Sie
dürfte bei einem Intensivpatienten wie
ihm eigentlich nicht arbeiten, dafür fehlt
ihr die nötige Anerkennung als Fachkraft.
Nemo versorgt rund 280 Patienten in
ganz Thüringen, mit ebenso vielen Mit -
arbeitern. In Rumänien suchte der Pflege-
dienst in der Vergangenheit gezielt nach
neuem Personal. Auf Facebook etwa lock-
te Nemo mit Videos, in denen Mitarbeite-
rinnen auf Rumänisch erzählen, wie gut
die Firma bezahle, wie familienfreundlich
die Arbeitszeiten seien, wie seriös die
Weiterbildung. Auch an der Krankenpflege -


schule nahe Timişoara, an der Monika ih-
ren Abschluss gemacht hatte, warb ein
Nemo-Mitarbeiter für die Firma.
Monika vertraute den Deutschen. Sie
sollte einen Sprachkurs erhalten, um ihre
B2-Sprachprüfung abzulegen – die Bedin-
gung, um hier überhaupt als Fachkraft ar-
beiten zu dürfen. Daraus wurde allerdings
nie etwas. Es sei dafür gerade keine Zeit,
hätten die Chefs ihr immer wieder gesagt.
Monika selbst spricht zwar holprig, aber
verständlich Deutsch. Viele ihrer rumäni-
schen Kolleginnen hätten das nicht ge-
konnt, sagt sie. Im Ernstfall, sei ihnen ge-
sagt worden, sollten sie einen Nemo-Mit-
arbeiter auf dem Handy anrufen, der mit
dem Notarzt reden könne. Von der Chefin
hätten sie ein paar wichtige Worte gelernt:
Schlaganfall, Herzinfarkt, Atemnot, so et-
was.
In manchen Monaten kam Monika auf
eine Arbeitszeit von 285 Stunden. Ihr
Vertrag als Krankenpflegehelferin sah
80 Stunden pro Monat vor, für einen
Bruttolohn von 11 Euro je Stunde. Bei der
Kasse rechnete Nemo für Monikas Arbeit
rund 29 Euro pro Stunde ab – so viel wird
eigentlich nur für geschulte Fachkräfte
bezahlt.
Den Wechsel der Kanüle habe sie nur
in der Theorie gelernt, sagt Monika, ein
paarmal habe eine leitende Kraft von
Nemo sie zuschauen lassen. Das war’s –
für ein potenziell lebensbedrohliches Ma-
növer. Ihrer Chefin habe sie gesagt, dass
sie so nicht mehr weiterarbeiten mag. »Wir
haben Menschenleben in der Hand. Das
ist sehr, sehr traurig.«
Ein paar Monate später wird Monika
ihren Job bei Nemo kündigen – sie kann
nicht mehr.
Nemo weist die Vorwürfe als »haltlos
und unbegründet« zurück. Die rumäni-
schen Pflegekräfte hätten in ihrem Heimat-
land eine Ausbildung zur Krankenschwes-
ter absolviert, sie seien Fachkräfte und ihre
Abschlüsse in Deutschland laut Gesetz an-
erkannt. Einen Nachweis, dass die zustän-
digen Behörden die Abschlüsse auch wirk-
lich anerkannt haben, liefert Nemo nicht.

Für den Einsatz in der Intensivpflege wür-
den sie über einen Zeitraum von vier Mo-
naten geschult und weitergebildet. Mit al-
len könne man sich »tadellos auf Deutsch«
verständigen.
Dass die Pflegefirma aber offenbar re-
gelmäßig die Kassen hinterging, belegt ein
internes Gutachten, das die Prüfer des
MDK Thüringen im vergangenen Sommer
anfertigten. Bei den acht geprüften Patien-
ten beanstandeten sie mehrfach, dass
Nemo »nicht vertragskonformes Personal«
einsetze, Hilfskräfte statt der vorgesehe-
nen Fachkräfte arbeiten lasse, die Patien-
ten »nicht sachgerecht« versorgt würden.
In den meisten Abrechnungen fanden die
Prüfer Fehler.
Zu den Absurditäten des deutschen
Pflegesystems gehört, dass der MDK trotz
der schweren Vorwürfe in dem internen
Papier gleichzeitig jenen »Transparenz -
bericht« veröffentlichte, auf den sich auch
Barbara Maier verließ und der Nemo die
Qualitätsnote 1,3 verlieh. Obwohl das Pa-
pier auf derselben Prüfung beruht, ist von
Mängeln darin kaum die Rede. Viele Prüf-
kriterien, die intern wichtig sind, tauchen
im öffentlichen Teil nicht auf – so wollen
es die Regeln. Von Transparenz keine
Spur.
Auch die Krankenkassen nahmen das
Verhalten von Nemo offenbar lange hin,
trotz des MDK-Gutachtens erstattete
etwa die AOK Plus erst im Februar An -
zeige gegen den Pflegedienst. Dabei war
Nemo schon früher auffällig geworden:
Im vergangenen Oktober schloss die Fir-
ma eine Intensivpflege-WG in Erfurt,
nachdem Kassen und Heimaufsicht fest-
gestellt hatten, dass das Unternehmen aus-
ländische Mitarbeiter ohne Anerkennung
als Pflegefachkraft beschäftigte. Dieselbe
Masche also.
Barbara Maier war bereits nach weni-
gen Tagen klar, dass sie ihren Bruder mit
den vermeintlichen Pflegeprofis nicht al-
lein lassen durfte. Die 48-Jährige kündigte
deshalb ihren Job. »Er selbst kann sich
doch nicht wehren«, sagt sie. Schon in den
ersten Tagen hatte sich die Haut ihres
Bruders entzündet, dort, wo die Ernäh-
rungssonde durch die Bauchdecke führt.
Maier vermutet, dass die Pflegekräfte das
Handdesinfektionsmittel auf die empfind-
liche Wunde gegeben hatten. Vielleicht
weil sie nicht lesen konnten, was auf der
Flasche stand.
Maier selbst ging einen fragwürdigen
Deal ein. Nemo stellte sie an, weil sie sich
ja ohnehin um ihren Bruder kümmerte.
Sie übernahm Schichten im Dienstplan, in
denen sie mit ihrem Bruder allein war. Da-
bei fehlte ihr die nötige Ausbildung. Sie
weiß das. Doch sie sah keinen Ausweg.
Warum nicht wenigstens ein bisschen Geld
bekommen für die Mühe, die Müdigkeit,
die Hilflosigkeit?

68 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019

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Quelle: Bundesagentur für Arbeit
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