Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Nemo verweist darauf, dass die Unfall-
kasse von der Anstellung wusste. Tatsäch-
lich war man dort informiert. Die Kasse
zahlte sogar 26 Euro pro Stunde für Maiers
Einsatz – dass sie nicht qualifiziert war,
kümmerte die Kasse nicht. Überhaupt:
Einen »Pflegebetrug« durch Nemo könne
man nicht feststellen. Was eine Fachkraft
ausmache, hält man bei der Unfallkasse
für eine »Ermessensfrage«.
Maier hat inzwischen einen anderen
Pflegedienst, mit dem sie zufrieden ist.
Und sie hat ihren alten Beruf wieder auf-
genommen.


Kaum mehr Regeln
als im Imbiss

Rund 2,6 Millionen Menschen werden in
Deutschland zu Hause gepflegt – gut eine
Million mehr als vor zehn Jahren. Viele
von ihnen sind auf Pflegedienste angewie-
sen. Der Bedarf steigt unaufhörlich und
hat einen nie da gewesenen Boom aus -
gelöst: Die Zahl der Pflegedienste ist ex-
plodiert, auf 14 000. Rund 390 000 Mit-
arbeiter beschäftigt die Branche – viel zu
wenige.
Vor allem Krankenpflegekräfte mit Exa-
men fehlen, warnt die Bundesagentur für
Arbeit. Auf 100 freie Stellen kommen nur
41 verfügbare Fachkräfte, vor fast zehn
Jahren waren es mehr als doppelt so viele.


Pflegefirmen suchen daher im Schnitt
154 Tage nach solchen Mitarbeitern, um
freie Stellen zu besetzen – 36 Prozent
mehr als im Durchschnitt aller Berufe. Und
die Suche dauert von Jahr zu Jahr länger.
Viele Pflegekräfte reizt der tiefe Sinn
ihrer Arbeit. Anderen zu helfen erfüllt sie.
Und doch wenden sich immer mehr
Menschen von dem Beruf ab. Der Per -
sonalmangel macht die Arbeit für die
übrigen Kollegen belastender, viele geben
frustriert auf oder flüchten erschöpft in
Teilzeit.
Der Mangel hat eine neue Form des
Raubrittertums hervorgebracht: Pflege -
firmen können die Bedingungen diktieren,
unter denen sie arbeiten wollen.
Ein Pflegedienst wird heute so schnell
genehmigt wie ein Wurststand. Einen Ver-
trag erhält eigentlich jeder, die Zulassung
nach minimalen Kriterien dürfen die Kas-
sen den Pflegefirmen im Prinzip nicht ver-
weigern. Eine angestellte Pflegeleitung
reicht. Eindeutige Gesetze für die nötige
Qualifikation der Pflegekräfte existieren
nicht. »Im Prinzip kann jeder einen Inten-
sivpflegedienst aufmachen. Da gehört
nicht viel dazu«, sagt der Pflegeexperte
Christoph Jaschke, der als Krankenpfleger
begann und jahrelang selbst eine Heim -
beatmungsfirma führte. Heute kämpft er
für den Ruf seiner Branche. Jaschke for-
dert klare Vorgaben. »Ein großer Teil der

Intensivpflegefirmen würde solche Krite-
rien derzeit nicht erfüllen«, sagt er.
Statt klare Regeln vorzugeben, wälze
der Staat die Aufgabe, für Qualität und
Ordnung in dem wild wuchernden Gewer-
be zu sorgen, auf den MDK ab.
Der Medizinische Dienst entscheidet
nicht nur darüber, welche Pflegegrade Ver-
sicherte bekommen und wie viel finan -
zielle Unterstützung, sondern überwacht
auch die Qualität von Pflegediensten. Seit
2016 müssen die Kontrolleure zudem ein-
mal im Jahr eine Abrechnungsprüfung
durchführen.
Doch das Gesetz macht ihnen diese Ar-
beit beinahe unmöglich. Denn die Patien-
ten müssen ihr Einverständnis für eine Prü-
fung geben. Weil der MDK seinen Besuch
zudem einen Tag vorher ankündigen muss,
bleibt den Pflegediensten im Zweifel ge-
nug Zeit, um Patienten so unter Druck zu
setzen, dass sie die Prüfung verweigern.
Manche Anbieter lassen ihre Kunden
von vornherein unterschreiben, dass sie
Prüfungen grundsätzlich ablehnen. »Es
gibt Pflegedienste, deren Abrechnungen
jahrelang nicht geprüft werden, weil die
Patienten nicht einwilligen«, sagt Johanna
Sell, stellvertretende Geschäftsführerin
des MDK Bayern.
Hinzu kommt: Beim Thema Pflege
herrscht in Deutschland vertraglicher Irr-
sinn. Jede Kasse kann mit jedem einzelnen

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Der monströse Papierwust erstickt den Enthusiasmus der Kontrolleure.

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