Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Pflegedienst individuelle Verträge abschlie-
ßen. Dort werden die Bedingungen festge-
zurrt – von Ausnahme- bis hin zu Zusatz-
vereinbarungen. Was Betrug ist und was
nicht, können die Ermittler nur beurteilen,
wenn sie die Verträge kennen. Manche
Kassen aber schreiben darin nur fest, das
Pflegepersonal müsse »geeignet« sein.
Andere definieren nicht einmal, was als
Intensivpflege eigentlich zu leisten ist. Wie
soll man da einen Betrug nachweisen?
Kriminellen spielt auch in die Hände,
dass die Pflege noch immer ein ziemlich
analoges Geschäft ist. Während jeder Pa-
ketbote seit Jahren digital scannt, sobald
er eine Sendung zugestellt hat, kleben die
Pflegedienste am Papier. Leistungsnach-
weise werden oft mit unlesbaren Namens-
kürzeln abgezeichnet. Pflegekräfte sind
nicht einmal verpflichtet zu notieren,
wann ihr Einsatz bei einem Patienten be-
gann und wann er endete. Bei einer digita -
len Zeit- und Leistungserfassung wäre leicht
zu entlarven, wenn eine Pflegekraft bei
einem zu Betreuenden im Dienst ist und
zur selben Zeit, viele Kilometer entfernt,
schon die Arbeit beim nächsten abrechnet.
So aber erstickt der monströse Papier-
wust oft jeden Enthusiasmus der Kontrol-
leure. Buchhaltung in Schuhschachteln,
Loseblattsammlungen – bei mancher
Durchsuchung schleppen Polizeiermittler
wäschekorbweise Papier in ihre Dienst -
stellen. Um die Zettelwirtschaft zu ordnen,
braucht es Ressourcen und Kompetenz.
Wo beides fehlt, bleiben die Unterlagen
unangetastet liegen, bisweilen über Jahre.


Die erschöpften Ermittler

Die Maschen der Betrüger sind oft erschre-
ckend simpel. Ein Computer und ein guter
Drucker reichen schon. Über Jahre ergau-
nerte ein Pflegedienst mit gefälschten Aus-
bildungsnachweisen seiner Mitarbeiter
mehr als eine Million Euro.
Die 63-jährige Betreiberin der Firma
warb unqualifizierte Pflegekräfte aus Bos-
nien, Slowenien und Rumänien an. Deren
Namen wurden in die Urkunden gut aus-
gebildeter Mitarbeiter hineinkopiert – aus
einer Laborangestellten wurde so auf dem
Papier eine qualifizierte Pflegerin, für die
sich entsprechend hohe Stundenlöhne bei
der Krankenkasse abrechnen ließen.
Schon vor gut zehn Jahren war die
Pflegeunternehmerin in Nordrhein-West-
falen wegen Abrechnungsbetrug ver urteilt
worden. Doch sie wich auf andere Bun-
desländer aus und machte einfach weiter,
zuletzt vermittelte sie Mitarbeiter an di-
verse Pflegefirmen. Bei den Kassen fiel
das niemandem auf. Erst ein Zufall führte
dazu, dass die Frau Mitte Mai aufflog. Ein
Zeuge verriet Ermittlern des LKA Berlin,
wie Kraftfahrer und Putzhilfen mit ge-
fälschten Ur kunden zu fachkundigen In-


tensivpflegekräften wurden. Die LKA-Leu-
te ließen die Zertifikate bei den Landes-
behörden überprüfen, die für die Anerken-
nung der Ausbildung zuständig sind.
Es folgte eine Razzia mit 130 Polizisten
in Berlin, Brandenburg und Schleswig-Hol-
stein. Insgesamt zwölf Beschuldigte sind
in den Fall verwickelt, die Pflegedienst -
betreiberin sitzt in Untersuchungshaft. Die
Anklage beziffert den Schaden auf 1,4 Mil-
lionen Euro, die Ermittler gehen eher von
10 Millionen Euro aus. Das Geld ist ver -
loren, die Firma insolvent.
Die Berliner Staatsanwältin Ina Kinder
ist ernüchtert, trotz des Ermittlungserfolgs.
Schon 2016 hatte sie die Räume der Firma
durchsuchen lassen, doch die Papiere blie-
ben unangerührt liegen. Weil Kinder in
Berlin lange allein dafür zuständig war,

Pflege betrügern nachzuspüren – neben ih-
rer Arbeit an anderen Delikten. Zeitweilig
bekam sie Unterstützung durch einen zwei-
ten Staatsanwalt, seit September ermitteln
sie zu dritt – drei Jahre nach der Ankündi-
gung des damaligen Ministers Gröhe. »Seit-
her hat sich nicht viel getan«, sagt Kinder.
Auch in den Landeskriminalämtern und
Polizeidienststellen sieht es nicht viel bes-
ser aus: Die deutschen Ermittlungsbehör-
den sind ausgedünnt, kaputtgespart und
deshalb kaum arbeitsfähig.
Vor gut einem Jahr trat Karsten Fischer
sein Amt an. Der Kriminalhauptkommis-
sar hat es bis heute nicht geschafft, in sei-
nem Berliner Büro – blauer Linoleumfuß-
boden, gelbliche Wände, Neonlicht – ein
paar Bilder an die Wände zu hängen. Ihm
fehlt dafür die Zeit. Fischer leitet die Er-

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Wirtschaft

Er habe sich ein »Imperium auf dem Rücken
der Allgemeinheit geschaffen«.
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