Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

mittlungsgruppe, die Betrug in der Pflege,
bei Apotheken und im weiteren Gesund-
heitswesen nachgeht.
Als 2016 eine russische Pflegebande
in Berlin ausgehoben wurde – der Fall
»Ariadne« gehört bis heute zu den spekta-
kulärsten Ermittlungserfolgen – wurde die
damals eingesetzte Truppe von Sonder -
ermittlern in ein Kommissariat beim LKA
überführt und Fischer zu ihrem Leiter er-
koren. Das klang nach einem ernsthaften
Angang, nach Kompetenz und Kontinui-
tät. Seht her, so das Signal, die Politik holt
zum großen Schlag aus.
Doch wenn man Fischer heute fragt, wie
viele Leute er zur Verfügung hat, wird es
unübersichtlich. Von den Kollegen, die im
Fall »Ariadne« dabei waren, wurden viele
inzwischen wieder versetzt. Ein paar Kol-
leginnen sind schwanger geworden, für sie
fand sich kein Ersatz. Übrig sind noch eine
Handvoll Ermittler, die Fischer in das frus-
trierende Klein-Klein der Pflegeabrech-
nungen einweihen muss: frisierte Leis-
tungsnachweise, Abrechnungen für längst
verstorbene Patienten. Handkürzel auf
den täglichen Tourenzetteln müssen mit
Dienstplänen verglichen, die Qualifikation
von Pflegekräften muss mit ihren Aufga-
ben abgeglichen werden. In 40 möglichen
Betrugsfällen ermittelte sein Team im ver-
gangenen Jahr, in diesem Jahr werden es
deutlich mehr sein.
Die einzelnen Beträge sind oft klein:
Wurde nur die »Teilwäsche« für 8,60 Euro
gemacht oder tatsächlich die »Ganzkör-
perwäsche« für 13,65 Euro? Wurden die
Thrombosestrümpfe wirklich angezogen
oder die 2,47 Euro je Strumpf bloß abge-
rechnet? Passt die höhere Fahrtpauschale
von 6,46 Euro nach 20 Uhr zur Dienstzeit,
oder wären bloß 4,52 Euro erlaubt gewe-
sen? Die Preise unterscheiden sich noch
dazu von Kasse zu Kasse und von Bundes-
land zu Bundesland.
Insgesamt bringen es Betrüger mit sol-
chen Kleinstbeträgen auf beträchtliche
Summen. Die müssen allerdings im Detail
nachgewiesen werden. Fällt die Schadens-
summe zu niedrig aus, werden die über-
lasteten Staatsanwälte und Gerichte gar
nicht erst tätig. Dann war alles umsonst.
»Wir können nur hoffen, mit unseren Ver-
fahren und Urteilen Achtungserfolge zu er-
zielen, die wenigstens abschreckend wir-
ken«, sagt Fischer. »Dafür brauchen wir Ver-
fahren mit guten Erfolgschancen.« Einfach
belegbare Fälle, damit die Gerichte durch-
steigen und es nicht ewig dauert, bis einem
Pflegedienst mal der Prozess gemacht wird.
Selbst in Bundesländern, die die Krimi-
nalität am Pflegebett beherzt bekämpfen,
wie Bayern, kommen die Behörden kaum
hinterher. In Hessen haben sie gleich ganz
aufgegeben. »Pflegedienstverfahren be -
arbeiten wir nicht mehr«, sagt Alexander
Badle, der bei der Frankfurter General-


staatsanwaltschaft die Zentralstelle zur
Bekämpfung von Korruption im Gesund-
heitswesen leitet. »Wir können nicht mit
zwei Staatsanwälten auch noch hessenweit
die Betrugsverfahren in der ambulanten
Pflege bearbeiten.« Dort plagen sich nun
die örtlichen Staatsanwaltschaften mit
dem Thema ab.

Ein Tesla für den Pflegedienst
Gökhan Altincik ist Eigentümer eines der
größten Intensivpflegedienste in Bayern.
Seine Firmen versorgen mit rund 1100 Mit-
arbeitern fast 200 Patienten, vor allem
Wachkoma- und Intensivpatienten zu
Hause. Im Internet postet Altincik gern
Fotos von seinen Dienstautos, darunter
ein Tesla Model S, beklebt mit dem Logo
seiner Firma. Altinciks Ambulante Inten-
sivpflege Bayern (AIB) ist eine große Num-
mer in der Branche.
Im September vergangenen Jahres
glänzte der 44-Jährige im »Handelsblatt«
als Familienunternehmer des Tages. Wie
er vom Kind mit Sprachfehler und Haupt-
schulabschluss zum »mehrfachen Millio-
när« wurde – ganz redlich. Viele Pflege-
dienste, klagte Altincik, wollten mit Hoch-
risikopatienten Kasse machen. Es werde
»beschissen auf Teufel komm raus«. Des-
halb habe er den Intensivpflegeverband
Deutschland mit ins Leben gerufen, um
sich für bundesweite Qualitätsrichtlinien
in der ambulanten Intensivpflege starkzu-
machen.
Einen Monat später pustete eine Rich-
terin am Amtsgericht Kelheim die Schaum-
schlägerei weg. Sie verurteilte den gelern-
ten Krankenpfleger wegen Abrechnungs-
betrug in 48 Fällen. Altincik attestiert sie
in dem Urteil »erhöhte kriminelle Ener-
gie«. Er habe »sich durch die Taten in er-
heblichem Umfang bereichert«, schreibt
die Richterin, ein »Imperium auf dem Rü-
cken der Allgemeinheit geschaffen«.
Altinciks Firma rechnete, so steht es in
dem Urteil, bei den Krankenkassen rund
6000 Arbeitsstunden ihrer Pflegekräfte
ab, die so nie geleistet wurden. Den Scha-

den bezifferte das Gericht auf 183 000 Eu -
ro, tatsächlich dürfte er weit größer sein.
Die Anklage bezog sich lediglich auf Ab-
rechnungen für drei Patienten und einen
Zeitraum von gut anderthalb Jahren.
Manchmal waren die notierten Stunden
schlicht erfunden. Oft arbeiteten statt des
abgerechneten Fachpersonals unqualifi-
zierte Angehörige. Die spielten mit, auch
aus Angst, dass Altincik sie sitzenlässt,
wenn sie auspacken. Der Unternehmer, ur-
teilte die Richterin, habe die Angehörigen,
»in seine Machenschaften mit hineingezo-
gen« und ihre Notlage ausgenutzt.
Sie hielten auch deshalb still, weil Altin-
cik sie mit Bargeld und »Geschenken« be-
dachte: einem 2228 Euro teuren Kamin-
ofen für die Ehefrau eines Pflegebedürf -
tigen, 223 Euro für einen Besuch im
»Hunde paradies«. Ein Seitenschrank, vom
Schreiner angefertigt für 3075 Euro, und
eine 8900 Euro teure Quelle-Küche fanden
die Ermittler in den Belegen. Der Lebens-
gefährte einer Patientin bekam 10 Euro,
wenn er eine Pflegestunde übernahm – bei
der Kasse rechnete Altincik 27,50 Euro ab.
17,50 Euro pro Stunde blieben bei ihm
hängen, für nicht geleistete Arbeit. Auch
Mitarbeiter bezahlte er mitunter in Sach-
leistungen, um Sozialbeiträge zu sparen.
Selbst habe er jeden Monat ein Gehalt von
netto 15 000 Euro kassiert.
Altincik hat gestanden und entging da-
mit wohl dem Gefängnis. Er kam mit zwei
Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung da-
von und musste 180 000 Euro Strafe zah-
len. Den Schaden bei den Kassen hat er
gutgemacht. Er soll auch Sozialabgaben
unterschlagen haben, laut Anklage der
Staatsanwaltschaft Regensburg in 647 Fäl-
len. Der Schaden hier: 470 000 Euro. Al-
tincik steht auch dafür vor Gericht.
Doch Altinciks Firmen dürfen weiter
Patienten pflegen, als wäre nichts gewesen.
Sein Fall zeigt, wie schwer sich Kranken-
kassen damit tun, fragwürdige Dienstleis-
ter auszusortieren, wenn sie erst einmal
groß geworden sind.
Zwei, die das beharrlich versuchen, sind
Dominik Schirmer und Frank Ledermann.
Die beiden könnten als bissiges Fahnder-
team im »Tatort« durchgehen. Schirmer
ist Chefermittler der AOK Bayern. Leder-
mann, bei der AOK auf »Fehlverhaltens-
bekämpfung« in der Pflege spezialisiert,
ist Schirmers bester Mann. Er hat beinahe
jede Woche auffällige Abrechnungen auf
dem Tisch. Meist geht es um ein paar Tau-
send Euro, manchmal um Millionen.
Wo ein Betrug erwiesen ist, versucht er,
das Geld zurückzuholen. Ledermann plä-
diert in der eigenen Kasse für eine härtere
Gangart gegenüber Betrügern. »Wir müs-
sen als Kasse klar sagen: Wer betrügt, muss
mit Vertragskündigung rechnen.«
Das klingt selbstverständlich und ist
dennoch fast unmöglich. Selbst verurteilte

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 71

6,6


11,1


19,5


23,3


Markt mit Zukunft
Ambulante Pflege,
Umsatz in Mrd. Euro

Quelle: Pflegemarkt.com

2000 2010 2020 2030

Prognose
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