Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Pflegeanbieter können sich im Gesund-
heitssystem festkrallen. Schuld daran ist
ein Gestrüpp interner Kassenzwänge und
gesetzlicher Lücken.
Hinweise, dass Altinciks AIB falsch
abrechnet, hatte die AOK Bayern offen-
bar schon 2014. Sie erstattete Anzeige bei
der Staatsanwaltschaft in Regensburg. Es
folgten Durchsuchungen, ein Prozess und
schließlich ein Urteil. So weit, so nutzlos.
Denn würde die Kasse der Firma
kündigen, müsste allein die AOK Bayern
35 lebensbedrohlich erkrankte Patienten
von einem anderen Pflegedienst versorgen
lassen – sie ist gesetzlich dazu verpflichtet,
jedem ihrer Versicherten einen Platz
anzubieten.
Doch in einem Markt, in dem der Man-
gel regiert, ist das nicht mal eben möglich.
Ledermann, so erzählt der Vertreter einer
anderen Kasse, habe sich sowohl innerhalb
der AOK als auch bei anderen Kassen da-
für starkgemacht, Altincik die Verträge zu
kündigen. Und dabei immer wieder zu
hören bekommen: »Die Patienten kriegen
wir gar nicht alle woanders unter.«
Selbst die Juristen der Kassen sahen kei-
ne Chance, Altinciks Firmen rauszuwer-
fen – trotz des rechtskräftigen Urteils. Mitt-
lerweile rechnet er Pflegeleistungen über
Tochterunternehmen ab. Gegen die haben
die Kassen formal nichts in der Hand. Seine
Posten als Geschäftsführer hat Altincik dort
niedergelegt. Die AOK möchte zu dem Fall
nichts sagen – über einzelne Vertragspart-
ner äußere man sich grundsätzlich nicht.
Auch Altincik will sich in der Sache nicht
äußern.
Oft reicht ein Umzug in ein anderes
Bundesland oder eine Umfirmierung, um
als Pflegedienst neu anfangen zu können.
Eine länderübergreifende Datenbank für
Pflegebetrüger gibt es nicht. Ohnehin
könnten die Kassen eine neue Zulassung
nicht verhindern, selbst verurteilte Betrü-
ger dürfen einen Pflegedienst gründen, so-
fern sie nur eine leitende Kraft mit saube-
rem Führungszeugnis einstellen.
Allzu weit reicht der gemeinsame Wille
der Kassen ohnehin nicht. Gegen einheit-
liche Qualitätsstandards sträuben sie sich
nach wie vor. Lieber wollen sie den Pflege -
firmen eigene Konditionen und Preise vor-
geben – um im Wettbewerb der Kassen
gut dazustehen. Wer am wenigsten Geld
ausgibt, kann am Jahresende die Beiträge
stabil halten. Dieses Preisdumping aber
lockt Betrüger an, die mit unqualifizier-
tem und schlecht bezahltem Personal Kon-
kurrenten ausstechen – bis sie so groß
werden, dass an ihnen keiner mehr vor-
beikommt, auch die Kasse nicht. Ein Teu-
felskreis.
Bei AIB war es ausgerechnet die AOK
Bayern, die den Pflegedienst mit niedrigen
Stundensätzen abspeiste. Aus dem Urteil
gegen Altincik wird die Diskrepanz deut-


lich: Ende 2013 zahlte die BKK Mobil der
Firma 32,50 Euro je Pflegestunde beim
Intensivpatienten, die Audi BKK 30,50
Euro. Die AOK Bayern nur noch 27,50
Euro. Die Allgemeinen Ortskrankenkas-
sen sind bekannt dafür, ihre Marktmacht
auszuspielen – keine Kassenart in Deutsch-
land hat mehr Versicherte. Für Intensiv-
pflege zahlen sie teils zwei bis vier Euro
pro Stunde weniger als andere. »Die Kasse
nimmt damit den Betrug bewusst in Kauf«,
sagt ein Pflegeexperte.

Das Versagen der Politik
Pflege in Deutschland ist ein perfektes Zu-
sammenspiel aus Marktversagen und staat-
licher Unfähigkeit. Das Ergebnis: ein Sys-
tem, das Redlichkeit nicht belohnt, son-
dern Betrug selbst heranzüchtet – und
zur leichten Beute für Gier und Raffsucht
geworden ist.
Man kann Jens Spahn nicht vorwerfen,
dass er die Probleme und Nöte in der Pfle-
ge ignoriere. Kaum ein Monat vergeht, in
dem der Bundesgesundheitsminister nicht
neue Initiativen und Gesetze ankündigt.
Spahn kämpft vor allem gegen den Perso-
nalnotstand in der Branche, aber auch ge-
gen den Betrug im System.
Doch die Regierung scheut seit Jahren
klare Regeln. Pflegeexperten fordern
schon lange ein Zulassungsverbot für In-
haber betrügerischer Pflegedienste. Sie for-
dern einheitliche Verträge der Kassen mit
Pflegefirmen. Doch absehbar ist davon
nichts. »Die politischen Beschlüsse gegen
den Betrug in der Pflege bleiben an der
Oberfläche. Das ist purer Aktionismus«,
sagt AOK-Ermittler Schirmer.
Auch bei den digitalen Leistungsnach-
weisen, die Kassen und Staatsanwälten
die Kontrolle erleichtern würden, hakt
es. Im Juni stellten Spahn und seine Mi-
nisterkollegen die »Konzertierte Aktion
Pflege« vor. Danach sollen ambulante
Pflegedienste binnen der nächsten drei
bis vier Jahre ihre Leistungen komplett
digital erfassen und abrechnen. Pflegekräf-

te sollen dadurch effizienter arbeiten und
mehr Zeit für ihre Patienten gewinnen, so
Spahns Ziel. Mit bis zu 12 000 Euro hilft
der Staat jedem Pflegedienst bei der Um-
stellung.
Die Chance, dabei auch gegen Betrüger
vorzugehen, verpasste Jens Spahn. Dazu
hätte es einer gesetzlichen Vorgabe be-
durft, welche Daten digital erfasst werden
müssen.
Das auszuhandeln blieb den Kassen
und Pflegefirmen überlassen. Die aber
konnten sich schon bisher nicht auf ge-
meinsame Standards einigen. »Die Pflege -
dienste sperren sich. Sie wollen partout
nicht übermitteln, wann ein Pflegeeinsatz
begann und endete«, klagt Schirmer. »So
wird das nichts mit der Betrugsabwehr.«
Immerhin dürfen seit diesem Frühjahr
die Betrugsermittler in den Krankenkassen
ihre eigenen Kollegen vor verdächtigen
Anbietern warnen. Bisher war nicht ein-
mal das erlaubt, aus Datenschutzgründen.
Die eine Abteilung ermittelte wegen Be-
trug, die andere überwies weiter munter
Geld und Patienten.
Mit Verweis auf den Datenschutz konn-
ten sich Pflegedienste bisher auch weigern,
den Kassen Auskunft über die genaue Zahl
ihrer Mitarbeiter und deren Qualifikation
zu geben. Auch die Gesundheitsämter in
Bayern, die diese Informationen vorliegen
haben, geben sie oft nicht preis.
Eine Datenbank für auffällig gewor -
dene Pflegeanbieter bleibt erst einmal ein
Wunschtraum der Fahnder. Ihnen graut
schon davor, dass künftig noch mehr Pfle-
gekräfte aus dem Ausland angeworben
werden könnten, um den Personalmangel
zu lindern. »Wer soll denn kontrollieren,
ob ihre Qualifi kation ausreicht und kor-
rekt ist?«, fragt Staatsanwältin Kinder.
»Das ist jetzt schon nicht zu schaffen.«

Der Fall Glaß
Der Mann von Elisabeth Glaß starb am


  1. Juni 2017, einem Samstag, knapp sechs
    Wochen nachdem er als Intensivpflegefall
    aus dem Krankenhaus nach Hause verlegt
    worden war. Der Speditionsunternehmer
    hatte beim Beladen seines Lastwagens in
    Altötting einen Herzinfarkt erlitten, 20 Mi-
    nuten blieb sein Gehirn ohne Sauerstoff.
    Im Klinikum wurde der Mann ins künst -
    liche Koma versetzt, er musste künstlich
    ernährt und über eine Trachealkanüle im
    Hals beatmet werden. Elisabeth Glaß woll-
    te, dass ihr Mann zu Hause gepflegt wird.
    In der Klinik, sagt sie, habe sich niemand
    richtig um ihn gekümmert.
    Die AOK Bayern half ihr bei der Suche
    nach einem Pflegedienst, die Firma Life -
    line bekam schließlich den Vertrag. Der
    erste Eindruck war gut, die Pflegekräfte
    waren zuverlässig. Bis Lifeline eine Ur-
    laubsvertretung schickte. Eine junge Tsche-


72 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Wirtschaft

zu Hause,
zusätzlich durch
ambulante
Pflegedienste

vollstationär
in Heimen

zu Hause,
allein durch
Angehörige

Eigenes Bett, fremde Hilfe
Wie Pflegebedürftige in Deutschland
versorgt werden

Quellen:
Statistisches
Bundesamt, BiB;
Stand: 2017

24 %


52 %


24 %

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