Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

A


m Mittwochnachmittag gegen
14.20 Uhr versammelten sich die
Aufsichtsräte des Volkswagen-Kon-
zerns zu einer ungewöhnlichen Sitzung.
Die Tagesordnung bestand aus einem
einzigen Punkt: Anklage wegen Markt -
manipulation.
Alle Kontrolleure kamen zu dem eilig
einberufenen Treffen nach Wolfsburg, bis
auf einen: Hans Dieter Pötsch, 68, Vorsit-
zender des Gremiums. Ausgerechnet der
Chefaufseher durfte an der wohl wichtigs-
ten Sitzung des Jahres nicht teilnehmen,
wegen Befangenheit. Denn zu den Ange-
klagten gehört auch Pötsch selbst.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig
erhebt schwere Vorwürfe gegen ihn:
Pötsch, über viele Jahre Finanzvorstand
bei VW, soll den Aktionären zu lange ver-
schwiegen haben, dass dem Konzern 2015
in den USA Milliardenstrafen wegen ma-
nipulierter Dieselmotoren drohten. Er
habe damit »rechtswidrig Einfluss auf den
Börsenkurs des Unternehmens genom-
men«, so die Staatsanwaltschaft, die ihre
Vorwürfe am Dienstagnachmittag publik
machte. Ebenfalls angeklagt wurden VW-
Chef Herbert Diess und dessen Vorvorgän-
ger Martin Winterkorn. Alle Beschuldig-
ten weisen die Vorwürfe zurück.
Trotz aller Anschuldigungen stand die
Entscheidung des Aufsichtsrats schon vor
der Sitzung fest: Pötsch soll im Amt blei-
ben, genau wie Diess. Das hatten die wich-
tigsten Entscheidungsträger im Konzern,
allen voran die Eigentümerfamilien Por-
sche und Piëch, bereits in den Monaten
vor der Anklage durchblicken lassen. Die
Vorwürfe seien vollkommen haltlos. Das
Votum der Anwesenden fiel nach nur einer
Stunde – einstimmig.
Warum kettet sich der VW-Konzern so
bedingungslos an seinen Aufsichtsratschef?
Gemeinhin gelten Kontrolleure als leicht er-
setzbar. Sie führen die Geschäfte nicht, müs-
sen das Unternehmen nicht zwingend in-
und auswendig kennen, frischer Wind im
Kontrollgremium ist oft sogar eher hilfreich.
Doch Pötsch, ein 1,90-Meter-Mann mit
festem Händedruck, gilt bei VW als uner-
setzlich. In dem sonst so zerklüfteten Kon-
zern wird er von allen maßgeblichen Kräf-
ten geschätzt: den Eigentümerclans Porsche
und Piëch, dem Vorstand, dem Betriebsrat,
dem Land Niedersachsen. Ohne ihn, so
die Angst, zerbricht die fragile Gewalten-
teilung in Wolfsburg.


Andererseits: Wie soll ein Neuanfang
gelingen, wenn VW an Spitzenkräften fest-
hält, die selbst im Dieselskandal belastet
werden? Pötschs erzwungenes Fernblei-
ben von der Aufsichtsratssitzung am Mitt-
woch verdeutlicht den eklatanten Interes-
senkonflikt, in dem er seit seinem Amts-
antritt im Herbst 2015 steckt.
Als Aufsichtsratschef ist es eine seiner
wichtigsten Aufgaben, den Dieselbetrug
aufzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass
sich Derartiges nicht wiederholt. Als frü-
herer Finanzvorstand aber war Pötsch jah-
relang Teil des alten Systems, das den
Skandal verursachte. Pötschs einstige und
seine aktuelle Rolle stehen damit in unauf-
lösbarem Widerspruch: Im Dieselskandal
müsste Pötsch gegen Pötsch ermitteln, wo-
möglich sogar Schadensersatz von sich
selbst verlangen.
Längst ist der VW-Chefaufseher zum
Intimfeind der Aktionärsschützer gewor-
den. »VW sollte sich endlich von Leuten,
die mit der Dieselaffäre in Verbindung ste-
hen, befreien«, sagt Christian Strenger, Ex-
Chef der Fondsgesellschaft DWS und heu-

te Experte für gute Unternehmensführung.
Es gibt Spitzenpolitiker, die Pötsch für
nicht tragbar halten. Doch öffentlich äu-
ßern mögen sich bisher die wenigsten. Nur
Jörg Bode (FDP), Ex-Wirtschaftsminister
Niedersachsens, forderte Pötsch auf, sein
Amt ruhen zu lassen, wenn die Anklage
tatsächlich zugelassen wird.
Der Aufsichtsratschef ist solche Kritik
mittlerweile gewohnt, schon vor seinem
Amtsantritt stand er unter Beschuss. Ein-
zelne Mitglieder des Aufsichtsrats hatten
erhebliche Zweifel, ob Pötsch für das Amt
der Richtige sei. Über die Frage gab es hit-
zige Diskussionen.
Am Ende bekam er den machtvollen
Job, vor allem auf Wunsch der Familien-
eigner. Das Land Niedersachsen und die
anfangs skeptischen Arbeitnehmer zogen
mit. Pötsch wechselte direkt aus dem Vor-
stand an die Aufsichtsratsspitze. Sein An-
tritt war begleitet von Patzern.
Für Ärger sorgte schon die Vereinba-
rung mit VW, wonach Pötsch trotz des
Wechsels in das Kontrollgremium weiter
Gehalt aus seinem laufenden Vorstands-
vertrag beziehen sollte. Ein Tabubruch,
wie Aktionärsschützer Strenger befand:
Schließlich steckte VW damals in einer Si-
tuation, die Pötsch selbst als existenzielle
Bedrohung bezeichnete. Während der Auf-
sichtsratschef Millionen kassierte, sollten
Stellen gestrichen werden.
Zudem basierten Pötschs üppige Bezüge
laut Strenger auf den glänzenden Zahlen
des Rekordjahres 2014. Doch schon 2015
habe sich gezeigt, dass die Gewinne nicht
nachhaltig waren: Der Dieselskandal trug
VW einen Milliardenverlust ein. Strenger
traf sich damals mit Pötsch und polterte
los: »Das geht so nicht.« Der sonst so höf-
liche Pötsch reagierte dünnhäutig, das Ge-
spräch war rasch beendet. Seither herrscht
Eiszeit zwischen dem Aufsichtsratschef
und dem Aktionärsvertreter. Erst später
verzichtete Pötsch auf Teile seiner Bezüge
und änderte die Vergütungsregeln im Kon-
zern. Sein eigenes Gehalt wurde auf
400 000 Euro gedeckelt.
Auch als Aufklärer machte Pötsch keine
glückliche Figur. Im Herbst 2015, kurz
nachdem der Dieselskandal aufgeflogen
war, hatte Pötsch noch Transparenz ver-
sprochen: »Alles kommt auf den Tisch,
nichts wird unter den Teppich gekehrt.«
Der Chefaufseher wollte einen umfassen-
den Ermittlungsbericht veröffentlichen.
Eine Internetseite und eine Pressekonfe-
renz waren bereits geplant.
Doch im letzten Moment ließ sich
Pötsch von den VW-Anwälten zurückpfei-
fen. Eine Veröffentlichung schien zu ris-
kant, die zusammengetragenen Fakten wä-
ren eine Steilvorlage für Aktionärskläger
gewesen, die von VW Schadensersatz in
Milliardenhöhe verlangen. Pötsch muss
sich seither von Aktionären vorhalten las-

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Wirtschaft

Die stille Macht


VolkswagenAufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch war von Beginn an
umstritten, nun klagen ihn die Staatsanwälte auch noch in der Diesel-
affäre an. Der Autokonzern hält trotzdem an ihm fest – aus Angst.


  1. März 2015
    255,20 €
    3. September
    166,70 €
    Schuld-
    eingeständnis

  2. September
    111,50 €
    Martin Winterkorn tritt zurück.

  3. Oktober 2015
    92,36 €
    Die VW-Aktie erreicht ihren Tiefpunkt.

  4. September
    162,40 €
    USA: Der Betrug wird öffentlich.

  5. Sept. 2019
    153,60 €


2015


  1. Juli
    216,25 €
    Herbert Diess wird
    VW-Markenchef.


Quelle: Refinitiv Datastream

Vertrauen verspielt
VW-Vorzugsaktie seit der Abgasaffäre
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