Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Grenze in Irland entsteht. Gerade das wol-
len die Europäer doch verhindern.
Felbermayr:Falsch. Wenn es zum harten
Brexit kommt, gibt es in jedem Fall eine
harte Grenze zwischen Irland und Nord -
irland. Die Europäer würden herbeiführen,
was sie abwenden wollen. Das erscheint
mir nicht wirklich durchdacht. Es stimmt,
dass auch die anhaltende Unsicherheit
Kosten verursacht. Trotzdem dürfen wir
jetzt nicht die Nerven verlieren. Kommt
es zu einem ungeordneten Brexit, der hart
durchgezogen wird, sind die Kosten mit
Sicherheit höher.
SPIEGEL:Großbritannien hätte darunter
aber mehr zu leiden als die Europäische
Union. Sitzt Brüssel am längeren Hebel?
Felbermayr:Da wäre ich mir nicht so si-
cher. Wenn wir das Thema aus einer glo-
balen Perspektive betrachten, sind die
Europäer gut beraten, wenn sie die Briten
so eng an ihren Staatenbund andocken,
wie es nur irgend geht.
SPIEGEL:Warum?
Felbermayr:In einer Welt, in der die USA
und China unverhohlen auf das Recht
des Stärkeren setzen, zählt nichts so sehr
wie die Größe des eigenen Marktes. Und
Großbritannien ist nun mal die zweitgröß-
te Volkswirtschaft Europas. Verlässt das
Land die EU, verliert diese 15 Prozent ih-
res Marktes. Das dürfen die Europäer aus
wohlverstandenem Eigeninteresse nicht
zulassen. Deshalb sollten wir den Briten
bei der Ausgestaltung eines künftigen
Handelsabkommens entgegenkommen.
Zum Beispiel durch die Bildung eines ge-
meinsamen Zollvereins, wie er im 19. Jahr-
hundert vor der Gründung des Deutschen
Reiches zwischen Ländern und Fürsten-
tümern geschaffen wurde.
SPIEGEL:Wie würde das funktionieren?
Felbermayr:Großbritannien und die EU
würden weiter als gemeinsamer Wirt-
schaftsraum für den größten Teil der Güter
und manche Dienstleistungen auftreten.
Zugleich bekämen die Briten ein Mitspra-
cherecht bei künftigen Zollabkommen.
Von einem solchen Deal würden beide Sei-
ten profitieren.
SPIEGEL:Das Problem ist nur, dass John-
son lieber eigene Handelsabkommen mit
Staaten in aller Welt abschließen möchte.
Felbermayr:Schauen Sie sich die Verträge
an, die US-Präsident Trump jüngst mit Ko-
rea oder seinen Nafta-Partnern Mexiko
und Kanada abgeschlossen hat. Das sind
America-first-Abkommen, bei denen das
Weiße Haus mehr oder weniger die Bedin-
gungen diktiert hat. Und warum ist das
so? Weil Kanada nur etwa ein Zehntel des
Marktvolumens der USA aufbieten kann.
SPIEGEL:Johnson setzt aber auf die ideo-
logische Nähe zu Trump. Und auf dessen
Interesse, die EU zu schwächen.
Felbermayr:Sicher, Trump hofiert John-
son, um Merkel zu ärgern. Aber das heißt


noch lange nicht, dass er bereit wäre, des-
halb auf Handelsvorteile zu verzichten. So
naiv können nicht einmal die Brexiteers
sein, dass sie glauben, Trump würde ihnen
aus philanthropischen Gründen bessere
Bedingungen zugestehen. Außerdem zei-
gen viele Studien: Wenn eine große Nation
mit einer kleineren verhandelt, setzt sich
in der Regel die größere durch.
SPIEGEL:Die Briten planen aber nicht nur
Handelsverträge. Sie wollen auch zum
»Singapur an der Themse« werden, also
Unternehmen aus aller Welt mit günstigen
Steuern und laxen Regeln ins Land locken.
Felbermayr:Das ist eine Strategie, die
schon eher aufgehen könnte. Wenn sich
Großbritannien zur Steueroase des Konti-
nents entwickeln will, wären die Europäer
kaum in der Lage, das zu verhindern. Sie
müssten sonst den Kanaltunnel zumauern,
damit kein Spanier oder Franzose mehr
mit dem Geldkoffer nach London reisen
kann. Und sie müssten den Kapitalverkehr

scharf kontrollieren. Beides werden sie
nicht tun. Umso wichtiger wäre es, mit den
Briten zu einem möglichst umfassenden
Handelsvertrag zu kommen, der diesen
Unterbietungswettlauf ausschließt.
SPIEGEL:Sind an der Brexit-Misere wo-
möglich nicht nur die Briten schuld?
Felbermayr:In der Tat. Die Briten sind
derzeit politisch handlungsunfähig. Das ist
schlimm genug. Aber auch die Europäer
gehen in vielerlei Hinsicht von falschen
Voraussetzungen aus.
SPIEGEL:Wie meinen Sie das?
Felbermayr:In Brüssel glauben manche
noch immer, die Briten komplett in der
EU halten zu können. Das ist aber ange-
sichts des Resultats beim Referendum eine
Illusion. Ebenso war es ein Fehler, zu-
nächst den Austritt und erst später das
Handelsabkommen unter Dach und Fach
bringen zu wollen. Das hat die Gesprächs-
themen unnötig beschränkt. Das größte
Versäumnis freilich liegt darin, dass die

EU kein Konzept für ihre künftigen Bezie-
hungen mit London hat. Brüssel tut so, als
hätte es bei einem EU-Austritt der Briten
nichts zu verlieren. Das ist aber falsch.
SPIEGEL:Die Europäer wollen eben ver-
hindern, dass andere Länder dem briti-
schen Beispiel folgen und ebenfalls Son-
derrechte verlangen.
Felbermayr: Das ist zu kurz gedacht.
Großbritannien ist die zweitgrößte Volks-
wirtschaft der EU. Punkt. Das Land hat
deshalb eine andere Verhandlungsmacht
als beispielsweise Dänemark oder Öster-
reich. Ein Austritt dieser Länder hätte für
die EU kaum Nachteile, für sie selbst aber
wäre es eine Katastrophe. Viele ökonomi-
sche Analysen zeigen: Bei einem Land wie
Tschechien machen Exporte in EU-Staa-
ten fast 80 Prozent der Wirtschaftsleistung
aus. Beim Vereinigten Königreich sind es
dagegen nicht mal 12 Prozent.
SPIEGEL:In der EU haben nun mal alle
Staaten die gleichen Rechte.
Felbermayr:Das stimmt, aber ich argu-
mentiere hier nicht als Politiker, sondern
als Ökonom. Und wer über Handelsfragen
diskutiert, sollte die grundlegenden wirt-
schaftlichen Interessen nicht völlig außer
Acht lassen. Ich bin gegen ein Europa à la
Carte, bei dem sich jeder aus einer langen
Liste der Möglichkeiten herauspicken
kann, was ihm am besten schmeckt. Ein
Europa der zwei oder drei Geschwindig-
keiten wäre dagegen ein großer Fortschritt.
SPIEGEL:Aber es würde die Integrität des
Binnenmarktes zerstören.
Felbermayr:Das glaube ich nicht. Es gibt
nun mal Länder, die wirtschaftlich mit der
EU verbunden sein wollen, aber keine
enge politische Union wünschen. Für diese
Länder haben die Europäer kein Angebot.
Stattdessen verhandelt Brüssel nach dem
Motto »Friss oder stirb«: entweder die vol-
le Mitgliedschaft oder ein Abkommen wie
mit Südkorea. Das ist aus der Sicht von
Bürokraten verständlich, aber nicht klug.
SPIEGEL:Deutschland ist weit stärker an
der Mitgliedschaft Großbritanniens inte-
ressiert als Frankreich. Müsste die Kanz-
lerin dies deutlicher zur Geltung bringen?
Felbermayr:Ja. Frankreich ist traditionell
stärker am eigenen Markt orientiert als
die Exportnation Deutschland. Berlin hat
sich früher gern hinter London versteckt,
wenn es in Wirtschafts- und Handelsfragen
Konflikte mit Frankreich gab. Dass Europa
besser fährt, wenn Deutschland diese Dif-
ferenzen künftig selbst austragen muss,
möchte ich bezweifeln. Auch deshalb hat
Berlin ein elementares Interesse, die Bri-
ten aufs Engste an Europa zu binden.
Interview: Michael Sauga

80 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019


Wirtschaft

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Wie es nach Johnsons Niederlage
in London weitergeht

Mehr oder weniger abhängig
Exporte in die EU, gemessen am
Bruttoinlandsprodukt, in Prozent
Großbritannien
12
Frankreich
17
Deutschland
27
Österreich
39
Niederlande
71
Tschechien
78

Quellen: Eurostat, IfW Kiel
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