wird fortan jeden Abend an öffentlichen
Plätzen gesungen. Zum Mondfest steigen
Tausende auf den Victoria Peak und den
Lion Rock, beides Stadtberge Hongkongs,
und leuchten mit Laserpointern auf die
Wolkenkratzer hinunter.
Schwerfällig und wie von der Wirklich-
keit überholt nimmt sich neben diesem
Feuerwerk an Aktionen die Öffentlich-
keitsarbeit der Regierung aus. Formelhaft
beschwört Carrie Lam über Wochen den
Zusammenhalt der Stadt und greift zu Ver-
gleichen, die die Protestierenden erst recht
provozieren: Sie sei eine Mutter, sagt sie
am 12. Juni. Wenn sie den »Launen« ihres
Sohnes nachgebe, werde er eines Tages
fragen: »Mama, warum hast du mich da-
mals nicht zurückgehalten?«
Noch fragwürdiger sind Äußerungen an-
derer Politiker: Die Lam-Beraterin Fanny
Law behauptet Anfang September, junge
Mädchen böten männlichen Frontline-De-
monstranten »Gratissex« an. Halbherzig
verurteilt die Regierung brutale Übergriffe,
die vermutlich kriminelle Gangs seit Ende
Juli auf Demonstranten und Unbeteiligte
verüben. Standhaft verteidigt sie fast jede
Aktion der Polizei, selbst gefährliche Ein-
sätze in der Enge von U-Bahn-Stationen.
Dieser Korpsgeist spiegelt sich aber, mit
Ausnahme des Zwischenfalls am Flugha-
fen, auch im Lager der Regierungsgegner.
Selbst wenn einzelne Protestierende zu
weit gehen mögen, niemand will den Kon-
sens aufbrechen. Die zunehmende Härte
der Polizei stärkt diese Geschlossenheit.
Am 30. Juni erscheint in der »New York
Times« der Essay eines Demonstranten
namens Fred Chan Ho-fai, der die Taktik
der Bewegung umreißt. Sein Titel lautet:
»Bring die Polizei dazu, dich zu schlagen«.
Ziel sei es, schreibt Chan, »die aggressivs-
ten gewaltlosen Mittel einzusetzen, um die
Polizei und die Regierung an ihre Grenzen
zu bringen. Solche Aktionen machen
Lärm und erzeugen Aufmerksamkeit.« Ge-
linge es, die Polizei dazu zu bringen, »un-
nötige Kraft einzusetzen, dann wird die
Öffentlichkeit Missfallen und Abscheu ge-
genüber den Behörden empfinden«.
Einen Tag später, am 1. Juli, stürmen ra-
dikale Demonstranten zum zweiten Mal
das Parlament. Diesmal besetzen und ver-
wüsten sie den Sitzungssaal, beschmieren
Wände und schlagen Scheiben ein. Ob-
wohl zuvor mehrere Oppositionspolitiker
auf Knien versucht haben, die Demons-
tranten aufzuhalten, kritisiert im Nach -
hinein keiner von ihnen die Aktion.
Selbst der Verfassungsrechtler Benny
Tai, 55, Initiator der Regenschirm-Proteste
und ein entschiedener Verfechter gewalt-
losen Widerstands, kann sich nicht durch-
ringen, den zweiten Sturm aufs Parlament
zu verurteilen. Er sitzt am 1. Juli im Ge-
fängnis und hört im Radio von den Ereig-
nissen. »Unzivilisiert« sei gewesen, was
die Protestierenden getan hätten, das
räumt er ein. »Aber die Wahrheit ist: Ich
habe geweint«, sagt er, Anfang September,
seit ein paar Tagen wieder auf freiem Fuß.
Ein paar Dutzend Demonstranten sind
an jenem Abend in den Sitzungssaal vor-
gedrungen. Bevor sie dort die zentralen
Forderungen der Protestbewegung verkün-
den, halten sie einen Augenblick lang inne:
Ein solcher Akt könnte für alle Anwesen-
den hohe Gefängnisstrafen bedeuten.
»Gut 20 von ihnen sind erst einmal raus-
gegangen«, sagt Tai. »Doch dann sind sie
zurückgekommen. Sie wollten die anderen
nicht alleinlassen. Sie haben sich geopfert.
Vielleicht ist das der höchste Grad gewalt-
losen Widerstands, den wir in Hongkong
gesehen haben.«
Erst Anfang September zieht Carrie
Lam das Auslieferungsgesetz formell zu-
rück und kündigt an, »mit allen Betroffe-
nen« reden zu wollen. Für einen Augen-
blick zieht die Hongkonger Börse an, aber
Lams Zugeständnis verpufft. Mitte Sep-
tember sind mehr als 1400 Protestierende
festgenommen, angeklagt und auf Kau -
tion wieder freigelassen worden, Hunder-
te Molotow cocktails geworfen und gut
DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 93
CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES
Brennende Barrikade im Stadtteil Mong Kok am Sonntag: »Sie haben sich geopfert«