Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

2300 Tränengaspatronen abgefeuert wor-
den. Die Bewegung hat sich radikalisiert
und ist längst über das Auslieferungsge-
setz und vage Dialogangebote hinweg.
Inzwischen prügeln nicht mehr nur Poli -
zei und Protestierende aufeinander ein,
sondern auch Demonstranten unterschied-
licher Fraktionen. In der Gloucester Road
kommt es zu einer brutalen Szene. Regie-
rungsgegner schlagen einen Mann, bis er
auf den Knien liegt, dann treten sie auf ihn
ein, bis er sich nicht mehr rührt. Der Mann,
offenbar ein Sympathisant der Regierung,
ist in kritischem Zustand, als er im Kran-
kenhaus eintrifft.
»Ich hätte auch zugeschlagen«, sagt ein
junger Demonstrant, der sich Fong nennt.
Er nahm an diesem Nachmit-
tag an einem anderen Protest
teil, war aber schnell über
den Fall in der Gloucester
Road informiert. »Der Mann
hatte einen von uns angegrif-
fen.« Das sei auf dem sozia-
len Netzwerk LIHKG gemel-
det worden. Die Nachrichten
dort seien alle verifiziert.
»Das Ziel war, ihm eine Lek-
tion zu erteilen. Solche Leute
hören nicht auf Vernunft. Die
verstehen nur die Sprache
der Gewalt.« Fong hat seit
dem 9. Juni an fast allen Demonstratio-
nen teilgenommen, im Juli wurde er mit
ein paar Freunden aus seiner Mittelschule
zum »Frontliner«.
Fong ist 17 Jahre alt und lebt mit seinen
Eltern und zwei Schwestern in einer Zwei-
zimmerwohnung im Viertel Tseung Kwan
O. Sein Vater ist Bauarbeiter und ein Geg-
ner der Protestbewegung. »Er findet, wir
sollen gehorchen«, sagt Fong, »aber meine
Schwestern und ich wollen Demokratie.«
Das sei ganz typisch für Familien, in denen
die Eltern jenseits der 50 sind.


»Ideal wäre es, wenn Hongkong ganz
von China unabhängig werden könnte«,
sagt Fong, »aber das ist vielleicht nicht
realistisch.« Er will, dass die Regierung
bis Januar die restlichen vier Forderungen
erfüllt, die die Protestierenden zuvor
vorgetragen haben: eine unabhängige
Unter suchung der Polizeigewalt, die Nicht -
anwendung des mit hohen Strafen bewehr-
ten Aufruhrparagrafen, die Rücknahme al-
ler bereits erhobenen Anklagen – und di-
rekte, freie Wahlen, sowohl des Parlaments
als auch des nächsten Regierungschefs.
Die Erfolge der Protestbewegung, ihre
bemerkenswerte Geschlossenheit, auch die
Bestätigung, die sie international erfährt,
haben enorme Erwartungen geweckt. Doch
ihre führerlose, von sozialen
Medien geprägte Struktur, die
Schwäche der Hongkonger
und die Stärke der Pekinger
Regierung haben eine fast aus-
weglose Lage geschaffen.
Wenn dieser Konflikt friedlich
gelöst werden soll – wer hat
die Autorität, einen Kompro-
miss zu schließen?
»Es stimmt, eines Tages
werden wir mit der Regierung
reden müssen«, sagt Fred
Chan Ho-fai, drei Monate
nachdem er in der »New York
Times« zum ersten Mal über die Taktik
der Bewegung geschrieben hat. »Aber von
diesem Schritt sind wir noch weit entfernt.
Das werden wir erst tun, wenn die Regie-
rung unsere Forderungen akzeptiert hat.«
Chan sieht kein Problem darin, Vertre-
ter zu finden, die im Namen der Bewegung
verhandeln könnten. Ihre Autorität werde
sich aus den sozialen Netzwerken speisen,
in denen schon heute über jede Aktion der
Protestierenden abgestimmt werde. »Die
Rolle der sozialen Medien in dieser Bewe-
gung geht weit über die in früheren Kon-

flikten wie etwa im Arabischen Frühling
hinaus«, sagt Chan. Die Algorithmen seien
schneller und leistungsfähiger. Es ließen
sich heute viel effizienter gemeinsame, ver-
handlungsfähige Positionen bestimmen als
in den »Facebook-Revolutionen« vergan-
gener Jahre.
Doch Chinas Führung ist so wenig mit
den Regimen des Arabischen Frühlings zu
vergleichen wie die Protestbewegung in
Hongkong mit den Aufständischen in Tu-
nis, Kairo und Tripolis.
Hongkong ist für Peking kein existen-
zielles, aber nach dem Sommer 2019 ein
zunehmend ernstes Problem. Die Gefahr,
dass Chinas Führung es gewaltsam löst, ist
nach wie vor gegeben. Es liegt auch in der
Hand der Protestbewegung, dass es dazu
nicht kommt.
Die Regierungsgegner seien, sagt Chan,
noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten:
»Wir haben uns seit den Sechzigerjahren
daran gewöhnt, an Martin Luther King zu
denken, wenn von Bürgerrechtsbewegun-
gen die Rede ist. Nur wenige erinnern sich
an die wichtige Rolle, die Malcolm X und
seine radikalen Aktionen spielten.« Man
könne den Anteil an Radikalität erhöhen.

Die Bewegung scheint sich nach mehr als
100 Tagen des Protests ihrer Sache ähnlich
sicher zu sein wie Carrie Lam am Vor-
abend des 12. Juni.
Die Regierungschefin hat inzwischen
selbst den Rest an Glaubwürdigkeit verlo-
ren, den sie zu Beginn des Sommers noch
hatte. Sie hat zu viele Fehler gemacht und
zu viele Chancen verpasst, als dass sie bei
der Lösung des Konflikts noch eine zen-
trale Rolle spielen könnte.
Es sei schwierig, beklagte Lam vor vier
Wochen in einem vertraulichen Gespräch
mit Unternehmern, Dienerin »zweier Her-
ren« zu sein – der Bevölkerung Hong-
kongs und der Zentralregierung in Peking.
Alles deutet darauf hin, dass sie inzwi-
schen nur mehr einem Herrn dient, näm-
lich Peking – und auch nur als Platzhalter
für jemanden, der nach ihr kommen wird.
Wer das ist, wird Peking entscheiden.
Chinas Führung hält merkwürdig still,
nachdem sie im August Einheiten der
bewaffneten Volkspolizei an der Grenze
zu Hongkong stationiert hat. Seit dem
Besuch von Bundeskanzlerin Angela
Merkel Anfang September hat sich kein
führender chinesischer Politiker mehr
zu Hongkong geäußert. Das kann, muss
aber nicht ein gutes Zeichen sein.
Twitter: @bzand

94 DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019

AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
Demonstranten am 15. September: Wer hat die Autorität, einen Kompromiss zu schließen?

Laut Organisatoren
nahmen am 16. Juni

2 Mio.
Menschen an den
Protesten teil.
Die Polizei
sprach von

338 000
Demonstranten.
Quelle: SCMP

Video
Auf der Straße mit
den Demonstranten
spiegel.de/sp402019hongkong
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