Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

S


ie hatten begonnen, ihre Woh-
nung einzurichten. 160 Quadrat-
meter, vier Zimmer, in Istanbul.
Das Holzbett war schon gekauft,
auch der Fernsehsessel aus schwarzem Le-
der, den Jamal Khashoggi sich gewünscht
hatte. An einem Nachmittag im Oktober
2018 wollten Khashoggi und seine Verlob-
te Hatice Cengiz die Waschmaschine und
einen Herd aussuchen. Doch vorher hatte
Khashoggi noch einen Termin.
»Wo?«, fragte Cengiz ihren zukünftigen
Mann. »Im Konsulat«, sagte Khashoggi.
Das Paar wollte so bald wie möglich heira -
ten, aber dazu fehlte ein Dokument.
Eine Bescheinigung, dass Khashoggi
ledig war. Dieses Papier konnte nur
eine Behörde seines Heimatlandes
ausstellen. Khashoggi wurde in Sau-
di-Arabien geboren; Cengiz, seine
Verlobte, stammt aus der Türkei.
Um zehn Uhr rief Khashoggi das
saudi-arabische Konsulat an, um sei-
nen Besuch anzukündigen. Man bat
ihn, in drei Stunden vorbeizukom-
men. »Sie hatten genug Zeit, um alles
vorzubereiten«, sagt Cengiz. »Und
dann haben sie ihn umgebracht.«
Cengiz, 37 Jahre alt, sitzt auf der
Terrasse eines Cafés in London, wo
sie inzwischen lebt. Sie presst die
Lippen aufeinander. Sie hat die Hän-
de vor der Brust verschränkt, ihr
Körper spannt sich, als müsste sie ei-
nem Angriff standhalten. Cengiz will
nicht von dem Tag erzählen, an dem Jamal
Khashog gi getötet wurde. Sie will verges-
sen, was geschah, will ein neues Leben be-
ginnen. Doch sie kann es nicht.
»Wenn ich aufhöre, über Jamal zu spre-
chen, wird sein Tod von der Agenda ver-
schwinden«, sagt Cengiz. Deshalb spricht
sie, mehrere Tage lang. Sie zittert vor An-
spannung, manchmal laufen Cengiz Trä-
nen über das Gesicht. Aber sie weigert
sich, das Gespräch abzubrechen. »Ich tue
das für Jamal«, sagt Cengiz.
Jamal Khashoggi war einer der bekann-
testen Journalisten des Nahen Ostens. Am



  1. Oktober 2018 betrat er das saudi-arabi-
    sche Konsulat in Istanbul, um jene Papiere
    abzuholen, die er für die Hochzeit mit Cen-
    giz brauchte. Khashoggi kam nicht lebend
    heraus. Die Ermittler gehen davon aus,
    dass er von einem saudi-arabischen Spe-


zialkommando erstickt und anschließend
zerstückelt wurde.
Der Tod des Journalisten war so bru-
tal, dass kaum ein Staat ihn ignorieren
konnte. Die USA erließen Sanktionen ge-
gen 18 saudi-arabische Bürger. Deutsch-
land, Frankreich und Großbritannien ver-
hängten Einreiseverbote gegen die Tatver-
dächtigen. Berlin genehmigte keine weiteren
Rüstungsexporte an Riad. Kronprinz Mo-
hammed bin Salman schien isoliert.
Knapp ein Jahr ist seither vergangen. Bis
heute wurde niemand für den Mord verur-
teilt – es ist nicht einmal klar, wo Khashog-

gis Leiche liegt. Und Saudi-Arabien gehört
wieder zum Kreis der Mächtigen.
Cengiz will das nicht hinnehmen. Des-
halb führt sie einen Kampf, den sie nicht
gewinnen kann: Sie will Gerechtigkeit für
ihren toten Verlobten. Sie hat vor den Ver-
einten Nationen in Genf gesprochen und
trat im Europaparlament auf.
Es ist ein warmer Julitag in London.
Männer in Anzug eilen zur Arbeit, Frauen
ziehen Kinder hinter sich her. Auch Cengiz
hat es eilig. Ihr Kurs beginnt bald.
Cengiz hat einen Bachelor-Abschluss in
Religionswissenschaften und einen Master
in Nahoststudien; sie spricht fließend Ara-
bisch. Nun lernt sie 15 Stunden pro Woche
in einer Kleingruppe mit neun anderen
Schülern Englisch. Cengiz wollte schon

* Vor dem saudi-arabischen Konsulat.

lange ihre Englischkenntnisse verbessern.
Aber vor allem wollte sie fliehen. »Hier
weiß niemand, wer ich bin«, sagt sie.
In Istanbul kennt jeder ihr Gesicht,
selbst für Fremde ist sie »die Verlobte von
Khashoggi«. In ihrer Klasse ist sie einfach
Hatice, eine Englischschülerin, die sich
manchmal mit der Aussprache schwertut.
Doch Cengiz kann das vergangene Jahr
nicht ungeschehen machen. Die Stunden
vor dem Gebäude, das Khashoggi ver-
schluckt zu haben schien. Die Tage danach,
als sie im Bett die sozialen Medien verfolg-
te, noch immer hoffend, dass ihr Verlobter
auftauchen würde. Die Wochen,
nachdem Saudi-Arabien Khashoggis
Tod eingestanden hatte und Cengiz
in einen Dämmerzustand verfiel,
ohne den Willen, weiterzuleben.
Manchmal trifft sich Cengiz mit
Journalisten und erzählt von ihrem
Leben und dem Tod ihres Verlobten.
Sie hadert vor jedem Gespräch. In
den Nächten vor den Interviews
schläft sie nicht, danach kommt sie
schwerer zur Ruhe. »Ich möchte von
Jamal berichten, ich empfinde es als
meine Verantwortung«, sagt Cengiz.
»Aber diese Verantwortung erdrückt
mich manchmal.«
Cengiz kannte Jamal Khashoggi,
bevor er sie kannte. Seit Langem in-
teressiert sich Cengiz für die arabi-
sche Welt: Mit Anfang zwanzig be-
suchte sie einen Sprachkurs in Kairo,
seitdem verfolgt sie die Geschehnisse in
der Region. Als der Arabische Frühling
Ende 2010 begann, stellte Cengiz sich
einen Fernseher ins Zimmer, um keine
Meldung zu verpassen.
»Irgendwann sah ich auf dem Bildschirm
Jamal.« Khashoggi lebte damals noch in
Saudi-Arabien. Oft kommentierte er für
den Sender Al Jazeera aktuelle Entwick-
lungen. »Was er sagte, hatte Weitsicht und
Tiefe«, sagt Cengiz. Sie legte sich einen
Twitter-Account an, nur um zu lesen, was
Khashoggi dort schrieb.
Mehrere Jahre lang verfolgte Cengiz
die Arbeit von Khashoggi. Sie blieb ihm
auch treu, als er Saudi-Arabien 2017 auf
eine Warnung hin verließ und in die USA
zog. Der Kronprinz Mohammed bin
Salman hatte damals die Macht de facto
über nommen. Einerseits leitete MbS,

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 99


Ausland

Zwei Leben


SchicksaleVor knapp einem Jahr wurde Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul


ermordet, während seine Verlobte Hatice Cengiz vor der Tür wartete.
Seitdem kämpft sie um ein normales Leben – und um Gerechtigkeit. Von Alexandra Rojkov

REUTERS
Journalist Khashoggi in Istanbul im Oktober 2018*
Der Aufschrei verhallte rasch
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