Die Welt - 05.10.2019

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A


m 20. Dezember 1922 gerät
Thomas Mann zum ersten
Mal in seinem Leben mit
der Geisterwelt in Kontakt.
Ort des Geschehens ist die
Münchner Villa des Auto-
mobilfanatikers, umstritte-
nen Sexualpathologen und Parapsychologen
Albert Freiherr von Schrenck-Notzing. Als
der künftige Literaturnobelpreisträger gegen
20 Uhr eintrifft, ist die kleine Schar handver-
lesener Gäste vollständig.

VON MARIANNA LIEDER

Der Raum wird in rotes Schummerlicht
getaucht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit
steht Willi S., ein 18-jähriger Zahntechniker,
der dem Hausherrn seit geraumer Zeit als
Medium und Muse zu Diensten ist. Bekleidet
mit Schrenck-Notzings seidenem Morgen-
rock, macht es sich der Junge bequem. Tho-
mas Mann hält seine Hände (eine Kontroll-
maßnahme, um Betrug vorzubeugen). Im
Hintergrund spielt einer der Gäste „flotte
Märsche“ auf dem Akkordeon (das Medium
fordert genau diese Klänge als unerlässliche
„Produktionsbedingung“ ein). Willi fällt in
Trance. Abgesehen davon, dass er keucht,
schwitzt und den Kopf wild hin und her wirft
(Mann fühlt sich „unzweideutig an den Ge-
bärakt erinnert“), passiert lange Zeit nichts.
Schließlich aber doch: Allen bekannten
Naturgesetzen zum Trotz schwebt ein Ta-
schentuch durch den Raum, die Tastatur ei-
ner Schreibmaschine beginnt zu klackern.
Kurz darauf „erscheint“ etwas, das aussieht
wie ein Unterarm mit einer geballten Faust.
Es bewegt sich kurz provokant hin und her.
Puff! Schon ist die Gespensterhand wieder
verschwunden. „Das war nicht möglich, aber
es geschah“, schrieb Thomas Mann ein gutes
Jahr später in seinem Sitzungsbericht „Ok-
kulte Erlebnisse“ – einem der merkwürdigs-
ten Texte, die er jemals veröffentlicht hat:
Nichts widerstrebt dem Vernunftmenschen
und Erzironiker mehr, als einfach an den
Spuk zu glauben. Dennoch kann er sich nicht
durchringen, das Ganze als Trickserei abzu-
tun. Er flüchtet sich in Spott über den gro-
tesk-abgeschmackten Charakter der Zere-
monie, sucht wortreich nach Erklärungen,
letztlich kapituliert er.
Noch weitere drei Mal findet sich Mann
zur Geisterstunde bei Schrenck-Notzing ein,
und jedes Mal kehrt er völlig perplex wieder
zurück. Im „Zauberberg“, der 1924 zusam-
men mit dem Okkultismus-Text erschien,
hat er versucht, das unheimliche Geschehen
literarisch zu exorzieren und lässt im vorvor-
letzten Kapitel („Fragwürdigstes“) während
einer Séance ein leibhaftiges Gespenst er-
scheinen.
Eine ähnlich vertrackte Gefühlslage treibt
offenbar auch den Essayisten Thomas Knoe-
fel um. Auf den ersten Seiten seines „Okkul-
ten Breviers“ outet sich der ehemals prakti-
zierende Arzt und zeitweilige Verleger als
ausgesprochen jenseitsaffin: Unter anderem
lieferte er sich westafrikanischen Voodoo-
priestern aus, pilgerte zu Berliner Wunder-
heilern und tanzte sich bei brasilianischen
Candomblé-Ritualen in Trance. Dennoch be-
steht Knoefel, ganz wie sein berühmter Vor-
namensvetter ein knappes Jahrhundert zu-
vor, auf seinem Status als Skeptiker: Mag er
sich noch so oft in die Welt des Okkulten und
Magischen „verlaufen“ haben, nach wie vor
sei er ein „ungläubiger Thomas“. Der koket-
ten Logik dieser Selbstinszenierung gemäß
bleibt nur noch die Schrift als Mittel, um die
Dämonen zu bannen, die partout nicht von
einem ablassen wollen.
In zehn schwungvoll geschriebenen Kapi-
teln nimmt es Knoefel dann auch gleich furcht-
los mit jener Epoche auf, in der Gespenster
und Phantome sich auf dem Höhepunkt ihrer

entzaubert hatten, da tauchten plötzlich über-
all Geisterseher und neue Heilspropheten auf,
die wieder ein wenig Unerklärlichkeit und Jen-
seitshoffnung ins rationalistisch-materialisti-
sche Einheitsgrau brachten.
Die offizielle Geburtsstunde des modernen
Esoterikbooms schlug demnach am 31.März
1 848 im US-Ostküstendorf Hydesville. Zwei
schneewittchenbleiche, halbwüchsige Far-
merstöchter, Maggie und Kate Fox, vernah-
men in den Abendstunden Klopfgeräusche im
elterlichen Haus. Sie klopften zurück und fan-
den heraus, dass es sich um den unerlösten
Geist eines ermordeten Hausierers handelte.
KKKurz darauf tourten die Fox-Schwesternurz darauf tourten die Fox-Schwestern
durchs Land und tauschten vor begeistertem
Massenpublikum Klopfzeichen mit dem To-
tenreich aus. Die spirit-rapping-mania
schwappte als neuer, schichtenübergreifender
Zeitvertreib innerhalb weniger Jahre über den
AAAtlantik. Zunächst wurde England erobert,tlantik. Zunächst wurde England erobert,
dann Frankreich, und spätestens in den
1 870ern wurde auch hierzulande geklopft, was
das Zeug hielt. Man ließ Tische durch die Luft
schweben, telepathierte und sprach mit ver-
drehten Augen in fremden Zungen.

es Ektoplasma aus allen Körperöffnung.
Manchmal traten sie völlig nackt vor die Beob-
achterrunde, manchmal zertrümmerten sie die
teuren Kontrollinstrumente durch ihren tele-
kinetisch kanalisierten Zorn. Als geschäfts-
tüchtigste Mystikerin aller Zeiten hat selbst-
verständlich auch Helena Petrovna Blavatsky
ihren Auftritt. Ihre aus Buddhismus, Kabbala
und Sozialdarwinismus zusammengewürfelte
Theosophie wurde in weiten Kreisen des west-
lichen Bürgertums als eine Art Befreiungs-
theologie gefeiert. Blavatsky überzeugte als
weiblicher Messias ebenso wie als Schmuckde-
signerin, Sängerin, Mutterfigur, (als Mann ver-
kleidete) Soldatin und weltenbummelnde
AAAbenteurerin. Selbst Gegner, die sie in denbenteurerin. Selbst Gegner, die sie in den
1 880ern öffentlichkeitswirksam des Betrugs
üüüberführten, zeigten sich beeindruckt.berführten, zeigten sich beeindruckt.

u den männlichen Figuren, die in diesem
aranormalem Wimmelbild plastisch hervor-
reten, zählt insbesondere Thomas Manns
eisterbaron. Schrenck-Notzing repräsentiert
n Knoefels Darstellung gewissermaßen den
dealtypus des Okkultisten vor und nach 1900.
ieser war nämlich in der Regel ganz Kind sei-
er wissenschaftshörigen Zeit. Folglich ließ
ich die damals grassierende Passion fürs
bersinnliche nicht einfach als Flucht ins Ar-
haische, als irrationale Trotzreaktion gegen
die Zumutungen der Moderne abtun. Statt
sich, wie so mancher Esoteriker bis heute, von
VVVernunftkult und Fortschrittsoptimismusernunftkult und Fortschrittsoptimismus
üüüberfordert zu fühlen, sah sich Schrenck-Not-berfordert zu fühlen, sah sich Schrenck-Not-
zing in der Rolle des Wissenschaftspioniers,
der seine okkultistischen Hypothesen durch
endloses Experimentieren, Akribie und Me-
thode bestätigt haben wollte. Die Versuchsper-
sonen wurden peniblen Torturen unterzogen.
Mit dem neu erfundenen Röntgenapparat
wurden Magen und Speiseröhre durchleuch-
tet, Schrenck verabreichte Brechmittel, kon-
trollierte sorgsam Körpergewicht und Blut-
druck. Selbstverständlich erwischte er einige
der Medien beim Täuschungsversuch. Doch
wo stand eigentlich geschrieben, dass betrü-
gerische Einzelfälle gleich das gesamte para-
wissenschaftliche Theoriegebäude zum Ein-

sturz bringen? Schrenck-Notzing, der als ei-
ner der Ersten das therapeutische Potenzial
von Hypnose und Suggestion entdeckte, ging
sich irgendwann selbst auf den Leim. „Zwi-
schen Betrug und Wirklichkeit“, schrieb
Thomas Mann im erwähnten Okkultismus-
Aufsatz, „gab es viele Zwischenstufen, und
irgendwo waren sie eins.“
Als der Schriftsteller in Schrencks Münch-
ner Stadtpalais zu dieser Überzeugung kam,
war der epochale Spuk übrigens schon wie-
der im Niedergang begriffen. Spätestens 1930
war die Hochzeit des Geisterglaubens end-
gültig vorbei. Folgt man Knoefels beiläufig
eingestreuter Erklärung, trug das gerade
boomende Kino maßgeblich zu diesem Ende
bei. Denn im neuen Medium Film kam nun
auf neue Weise zusammen, was zu Zeiten der
Fox-Mädchen den Okkultismus zum Mas-
senphänomen werden ließ: Reales und das
Fantastische teilten sich eine Bühne. Diven
und Göttinnen traten auf. Die Zuschauer
konnten sich einer Illusionen hingeben, sich
betrügen lassen und sich dabei auch noch
blendend unterhalten fühlen.

Thomas Knoefel: Okkultes Brevier. Ein Ver-
such über das Medium Mensch. Matthes &
Seitz, 394 S., 28 €.

GETTY IMAGES

/GENERAL PHOTOGRAPHIC AGENCY

Im Schummerlicht der Parapsychologie: Was die Kulturgeschichte des


Okkultismus über die Moderne verrät


Schwebende


Erscheinungen


Schwebende


Erscheinungen


Schwebende


Erscheinungen


Der Raum wird in rotes Schummerlicht
getaucht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit
steht Willi S., ein 18-jähriger Zahntechniker,
der dem Hausherrn seit geraumer Zeit als
Medium und Muse zu Diensten ist. Bekleidet
mit Schrenck-Notzings seidenem Morgen-
rock, macht es sich der Junge bequem. Tho-
mas Mann hält seine Hände (eine Kontroll-
maßnahme, um Betrug vorzubeugen). Im
Hintergrund spielt einer der Gäste „flotte
Märsche“ auf dem Akkordeon (das Medium
fordert genau diese Klänge als unerlässliche
„Produktionsbedingung“ ein). Willi fällt in
Trance. Abgesehen davon, dass er keucht,
schwitzt und den Kopf wild hin und her wirft
(Mann fühlt sich „unzweideutig an den Ge-
bärakt erinnert“), passiert lange Zeit nichts.
Schließlich aber doch: Allen bekannten
Naturgesetzen zum Trotz schwebt ein Ta-
schentuch durch den Raum, die Tastatur ei-
ner Schreibmaschine beginnt zu klackern.
Kurz darauf „erscheint“ etwas, das aussieht
wie ein Unterarm mit einer geballten Faust.
Es bewegt sich kurz provokant hin und her.
Puff! Schon ist die Gespensterhand wieder
verschwunden. „Das war nicht möglich, aber
es geschah“, schrieb Thomas Mann ein gutes
Jahr später in seinem Sitzungsbericht „Ok-
kulte Erlebnisse“ – einem der merkwürdigs-
ten Texte, die er jemals veröffentlicht hat:
Nichts widerstrebt dem Vernunftmenschen
und Erzironiker mehr, als einfach an den
Spuk zu glauben. Dennoch kann er sich nicht
durchringen, das Ganze als Trickserei abzu-
tun. Er flüchtet sich in Spott über den gro-
tesk-abgeschmackten Charakter der Zere-
monie, sucht wortreich nach Erklärungen,

Noch weitere drei Mal findet sich Mann
zur Geisterstunde bei Schrenck-Notzing ein,
und jedes Mal kehrt er völlig perplex wieder
zurück. Im „Zauberberg“, der 1924 zusam-
men mit dem Okkultismus-Text erschien,
hat er versucht, das unheimliche Geschehen
literarisch zu exorzieren und lässt im vorvor-

Macht befanden: Mitte des 19.Jahrhunderts,
als Industrialisierung, Naturwissenschaft und
Revolutionen die Welt schon fast vollständig
ntzaubert hatten, da tauchten plötzlich über-
ll Geisterseher und neue Heilspropheten auf,
ie wieder ein wenig Unerklärlichkeit und Jen-
eitshoffnung ins rationalistisch-materialisti-
che Einheitsgrau brachten.
ie offizielle Geburtsstunde des modernen
soterikbooms schlug demnach am 31.März
848 im US-Ostküstendorf Hydesville. Zwei
chneewittchenbleiche, halbwüchsige Far-

Die neuen Missionare des Übersinnlichen
traten in unterschiedlichen Masken und Rol-
len auf. In Knoefels atmosphärischer, anekdo-
tensatter Okkultismuskunde dominiert der
Typus der sensitiven Diva: erotische Hochbe-
gabungen wie Eva Carrière und Eusapia Palla-
dino, die sich um das gängige Weiblichkeitside-
al denkbar wenig scherten. In der Rotlichtat-
mosphäre der Séancen (weißes Licht galt auf-
grund seiner Wellenlänge als schädlich für pa-
ranormale Phänomene) quoll ihnen sogenann-
tes Ektoplasma aus allen Körperöffnung.
Manchmal traten sie völlig nackt vor die Beob-

Zu den männlichen Figuren, die in diesem
paranormalem Wimmelbild plastisch hervor-
treten, zählt insbesondere Thomas Manns
Geisterbaron. Schrenck-Notzing repräsentiert
in Knoefels Darstellung gewissermaßen den
Idealtypus des Okkultisten vor und nach 1900.
Dieser war nämlich in der Regel ganz Kind sei-
ner wissenschaftshörigen Zeit. Folglich ließ
sich die damals grassierende Passion fürs
Übersinnliche nicht einfach als Flucht ins Ar-
chaische, als irrationale Trotzreaktion gegen
die Zumutungen der Moderne abtun. Statt

„Das war nicht möglich, aber es geschah“, schrieb Thomas Mann in seinem Bericht „Okkulte Erlebnisse“: Hier eine Seance um 1900

kkultismus über die Moderne verrät


Schwebende


ErscheinungenErscheinungenErscheinungenErscheinungen


SchwebendeSchwebendeSchwebende


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29


05.10.19 Samstag, 5. Oktober 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,5.OKTOBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 29


E


ichhörnchen haben ein ausge-
sprochen gutes Image. Ihr run-
des Gesicht, ihr buschiger
Schwanz und ihre schnellen Be-
wegungen wecken unsere Sym-
pathie. Unser Empfinden wehrt sich deshalb
dagegen, sie als das zu sehen, was sie sind:
Verwandte von Ratten und Mäusen, die we-
gen ihres nackten Schwanzes den Eindruck
räudiger und kranker Tiere erwecken und
Ekelgefühle erzeugen. Eichhörnchen sind
sichtbar, sie verstecken sich nicht.
Sie halten sich vor allem in Städten auf, man
fffindet sie in Parkanlagen, wo sie sich Men-indet sie in Parkanlagen, wo sie sich Men-
schen gegenüber zutraulich verhalten, wäh-
rend man sie im Dorf und im Wald, wo sie nach
herkömmlichem Verständnis eigentlich zu
Hause sein müssten, selten antrifft. Scheu sind
sie vor allem dort, wo keine Menschen sind.
WWWarum ist das so? Und was sagen uns die Ant-arum ist das so? Und was sagen uns die Ant-
worten auf solche Fragen über unser Verständ-
nis von den Tieren, die uns umgeben?
„Eichhörnchen sind reizvolle Tierchen. Ih-
nen zuzuschauen, macht große Freude“ – und
dennoch gerieten Menschen, die sich aus Zu-
neigung mit diesen Tieren befassten, in den
VVVerdacht, Schaden zu verursachen, schreibterdacht, Schaden zu verursachen, schreibt

Josef Reichholf („Das Leben der Eichhörnchen“Das Leben der Eichhörnchen“Das Leben der Eichhörnchen“..
Hanser, 176 S., 20 €)über die „Naturvernicht-
er“ in den Behörden, die Genehmigungen für
den Umgang mit Tieren verlangten, gegen die
Massentierhaltung aber wenig vorzubringen
hätten. Wir haben den Bezug zu den Tieren
verloren, weil man sie von uns fernhält, in der
Annahme, es sei gut für das Tier, keinen Kon-
takt zum Menschen zu haben. Ob ein Natur-
schutz, der sich gegen Naturfreunde richte,
noch sinnvoll sei, fragt Reichholf. Denn wie
Hunde und Katzen lebten doch auch die Na-
getiere unter uns und mit uns. Aber was wis-
sen wir schon über sie?
Eichhörnchen sind schlank, sie bewegen
sich viel, weil sie Nahrung finden müssen.
Das kostest Energie, deshalb suchen sie nach
Eicheln und Nüssen, Energiespendern, de-
ren Verzehr Körperwärme produziert. Damit
das Eichhörnchen sein Leben führen kann,
muss es ausreichend Nahrung finden. Was es
braucht, das kann es im Wald finden, wo
Bäume stehen, die Eicheln abwerfen. Aber
auch Eichelhäher und Rüsselkäfer leben von
der Baumfrucht. Im Unterschied zum Eich-
hörnchen, das viel Energie aufwenden muss,
um von einem Baum zum nächsten zu lau-

fen, können Vögel und Käfer fliegen. Sie ha-
ben also einen Vorteil gegenüber den Eich-
hörnchen, die Nachteile dadurch kompensie-
ren müssen, dass sie ihre Nahrung ergänzen.
Eichhörnchen suchen deshalb auch nach Ha-
selnüssen, Walnüssen und Samen von Hain-
buchen. Wer weiß schon, dass der Transport
solcher Samen dazu führt, dass Bäume sich
an anderen Orten vermehren können? Der
Mensch will davon nichts wissen, so Reich-
holf, weil nicht das Eichhörnchen, sondern
er selbst entscheiden will, wo Bäume wach-
sen sollen und wo nicht.
Eichhörnchen leben nicht nur in einer
komplexen Mitwelt anderer Tiere, sie leben
auch in der Mitwelt der Menschen. In den
Stadtparks sind sie nicht auf sich allein ge-
stellt, sie leben in der Stadt besser als im
Wald, weil Marder und Habichte in den Me-
tropolen nur selten zu finden sind und weil
es von den Menschen nichts zu befürchten
hat. Man lernt also, dass ökologische Ni-
schen keine abgetrennten Räume sind, die
erst mit einem Schlüssel geöffnet werden
müssen, damit man sie betreten kann. An-
ders gesagt: das Eichhörnchen lebt dort, wo
es gut überleben kann.

Wie Ratten und Mäuse sind auch die Eich-
hörnchen von selbst in die Menschenwelt
gekommen, weil sie Nahrung suchen, von
der auch wir leben. Die Überlebenschancen
dieser Nager sind in der Umgebung des
Menschen größer als in der freien Wildbahn,
wo sie schnell Opfer von Raubtieren wer-
den. Manchmal kann es sogar geschehen,
dass ein Tier, wenn es die Wahl hat, lieber im
Haus des Menschen als im Wald leben
möchte. So zum Beispiel „Schmurksi“, ein
Siebenschläfer, der sein ganzes Leben im
Haus der Familie Reichholf verbrachte, die
ihn aufzog und bei sich leben ließ. Es ist hin-
reißend, mit welcher Einfühlsamkeit Reich-
holf vom Leben des „Schmurksi“ erzählt,
der nichts zerstörte, niemanden biss, am Le-
ben der Menschen teilnahm und die Wohn-
küche als natürlichen Lebensraum empfand.
Am Garten, in den man ihn von Zeit und zu
Zeit setzte, zeigte er kein Interesse. „Sein
Überleben war für ihn gewiss nicht wertlos,
weil es kein Leben mit anderen Siebenschlä-
fffern gewesen war.“ Nur, wer dergleichenern gewesen war.“ Nur, wer dergleichen
nicht erlebt habe, könne zu der Auffassung
kommen, alles Menschliche müsse von „der
Natur“ ferngehalten werden.

Für Reichholf zeigt sich darin ein Mangel
an Empathie und Wertschätzung des Lebens.
So vertiefe sich nur der Graben zwischen
Mensch und Tier. Schmurksi habe ein Leben
gelebt, das voller Reiz für ihn gewesen sei,
und die Menschen, die daran teilhaben durf-
ten, hätten die Erfahrung gemacht, dass Tie-
re keine Schablonen, keine seelenlosen Ob-
jekte seien, zu denen man sachliche Distanz
halten müsse, sondern Wesen mit unter-
schiedlichen Eigenschaften. Eichhörnchen
seien von sich aus in die Menschenwelt ge-
kommen. Und könnten in ihr sehr gut leben.
Warum soll sich die Tier- und Pflanzenwelt
nicht verändern? Es nützt ihr nichts, wenn
sie vor Menschen geschützt wird, die nicht
ihr Feinde seien. Und so fällt das Fazit Reich-
holfs eindeutig aus. „Eichhörnchen zuzuse-
hen, ist ein Genuss. Ihr Charme macht sie
unwiderstehlich.“ Reichholf hat uns mit sei-
nem bezaubernden Buch die Augen geöffnet,
damit wir diese schöne, menschen- und tier-
freundliche Wahrheit sehen können.

Jörg Baberowski ist Historiker und lehrt in
Berlin. Zuletzt erschien bei S. Fischer „Räu-
me der Gewalt“.

Empathische Eskapisten


Über das gar nicht so wilde Wesen der Eichhörnchen. Von Jörg Baberowski


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