Süddeutsche Zeitung - 05.10.2019

(Ron) #1
von jörg magenau

W


as sieht man, wenn man
Versteinerungen sieht, die
Eduard Mörike auf der
Schwäbischen Alb gesam-
melt hat? Was erzählt sei-
ne Schiefertafel? Was hat man über Hans
Magnus Enzensberger erfahren, wenn
man seine kindliche Vaterbeschwörung
„LIBER-FATA-GOM-BALT“ gelesen und
darunter die Buntstiftzeichnung einer Lo-
komotive mit der Überschrift „iLEGTERRi-
SCHE AiSENBAN“ bewundert hat? Von der-
lei kleinen Preziosen lebt die Ausstellung
„Hands on!“ im Marbacher Literaturmuse-
um der Moderne. Sie möchte zeigen, wie
aus dem Einüben des Alphabets ein Schrei-
ben und aus dem Schreiben schließlich das
„Poesiemachen“ erwächst.


Da das Schreiben jedoch nur in den aller-
seltensten Fällen im Dichten endet und
nicht aus jedem Schreiber ein Poet wird,
geht die Ausstellung eher in die andere
Richtung, indem sie bei denen, die als
Schriftsteller bekannt geworden sind,
nach den Anfängen sucht: erste Schulhef-
te, von Lehrern korrigierte Aufsatzblätter,
Kinderbriefe und -zeichnungen. Von da
aus soll die Bedeutung der materiellen Be-
dingungen des Schreibens untersucht wer-
den, der Einfluss des Körperlichen und der
Schreibtechniken aufs schriftliche Resul-
tat. Es ist ja klar, dass man mit dem Gänse-
kiel langsamer operiert als mit einem Blei-
stift, Schiefertafel und Touchscreen nicht
dasselbe sind und Kerzenlicht auf dem


Papier unschärfere Schatten wirft als eine
LED-Tischleuchte. Dass ein Hocker einen
anderen Einfluss auf die Konzentration
nimmt als ein ergonomisch geformter
Schreibtischstuhl. Oder dass die Schreib-
maschine, später dann der Computer mit
dem Schreiben auch das Denken verän-
dert haben. Ist das Schreiben am PC über-
haupt noch ein körperlicher Vorgang, der
mit dem vergleichbar wäre, was beim
Schreiben mit der Hand geschieht?
Die Ausstellung kann darauf naturge-
mäß keine Antwort geben, auch wenn Be-
sucher an „Schreibstationen“ die unter-
schiedlichen Techniken ausprobieren
können (die Ergebnisse sollen vom Institut
für Wissensmedien an der Universität Tü-
bingen ausgewertet werden). Im Eingangs-
bereich gibt es zudem Gelegenheit, in
einer Lichtinstallation selber an die Wand
zu schreiben, indem man mit den Armen
wedelt, um so die Signaturen von Kafka,
Hesse und anderen nachzuzeichnen und
zu übermalen. Solch pseudopädagogisch-
infantiler Schnickschnack ist wohl unver-
meidlich in einer Mitmachkultur, die je-
dem Besucher das Gefühl vermitteln möch-
te, auch ein kleiner Schiller zu sein.
Das täuscht aber nicht darüber hinweg,
dass in erster Linie Exponate ausgestellt
werden, die zeigen, wie einst Schreiben ge-
lernt wurde und wie sich die Handschrif-
ten im Lauf der Jahrhunderte, aber auch
im Lauf eines Lebens verändern. Angeregt
wurde die Schau durch Hans Magnus
Enzensberger, dem es darum ging, „einen
Verlust auszustellen“ und Abschied zu neh-
men, weil die Epoche der Handschrift zu
Ende gehe. Für das Literaturmuseum be-
deutet das, dass es sich selber museali-
siert. Der Grundstoff des Marbacher Ar-
chivs wird selbst historisch. Womöglich
werden wir auf das Handschriftliche bald

so ähnlich blicken wir auf prähistorische
Fossilien. Wie sich die Bedeutung des Ar-
chivs dadurch verändern wird, ist noch gar
nicht abzusehen.
Vielleicht sind die ausgestellten Schul-
hefte und ersten Schreibübungen eine Re-
aktion auf diese Lage. Die Schulzeit be-
ginnt ja auch heute noch damit, dass das
Schreiben mit der Hand eingeübt wird, ob-
wohl es auch darüber bereits Diskussio-
nen gibt. Ist das überhaupt noch nötig,
wenn die Schüler doch sowieso bald zur
Tastatur übergehen? Ja, sagen die Ausstel-
lungsmacher, und zwar schon deshalb,
weil wir dabei 30 Muskeln und 17 Gelenke
einsetzen und zwölf Gehirnareale aktivie-
ren. Das schafft der am Computer tippen-
de Mensch nicht, obwohl auch dieses Tip-
pen – so die Schriftstellerin Ulrike Draes-
ner – ein Schreiben mit der Hand ist. „Aller-
dings mit einem kleinen Unterschied:
nicht mit einer, sondern mit beiden.“

Enzensberger hat das Schreibenlernen
in der Schule und besonders die Disziplin
Schönschrift als unnötige Normierung, ja
als „Terror“ erlebt, wie er im Gespräch mit
Jan Bürger im ausstellungsbegleitenden
„Marbacher Magazin“ verrät. Sein Poesie-
automat und mehr noch das System, mit
bunten Fähnchen einzelne Buchstaben im

Text zu markieren und sich damit eigene
Worte herauszupräparieren, sind deshalb
Befreiungsakte, die gehorsame Schüler in
rebellische Subjekte verwandeln. Gleich-
wohl ist das Dichten bei Enzensberger ein
handschriftlicher Vorgang, der aus Gekrit-
zel und Notizen hervorgeht. Doch „warum
muss man schön schreiben?“, fragt Enzens-

berger zu Recht. „Es genügt doch, verständ-
lich zu schreiben.“ Das jedoch sehen Auto-
ren mit ausgewiesener „Sauklaue“ anders,
Gottfried Benn etwa, der behauptete, er wä-
re wohl kein Autor geworden, wenn er alles
lesen könnte, was er geschrieben habe.
Kein Mensch schreibt sein Leben lang
gleich. Wir schreiben sogar für jeden An-
lass anders. Einkaufszettel sehen anders
aus als Gedichtentwürfe, manche benut-
zen dafür sogar eine andere Schrift. Kafka
bevorzugte mal die deutsche Kurrent, mal
lateinische Schrift, dann wieder die
Schreibmaschine. Sein handschriftlicher
Buchstabe „K“ ist so variantenreich, dass
sich allein darauf schon eine ganze For-
schungsrichtung begründen könnte. Ein
Raum der Ausstellung präpariert deshalb
einzelne Buchstaben heraus, wie sie von A
wie Aichinger bis Z wie Zweig zur Anwen-
dung kamen und belebt auf diese Weise
das Alphabet. Da geht es nicht ums Erler-

nen der Schönschrift, sondern um die Aus-
bildung individueller Besonderheiten.
Man könnte fragen, warum es interes-
santer ist, die Handschrift von Friedrich
Schiller oder Franz Kafka zu betrachten,
als die von Thomas Kapielski oder Felici-
tas Hoppe. Liegt das allein an der mit dem
Alter wachsenden historischen Patina?
Oder drückt sich in diesem Gefälle schon
der Bedeutungsverlust des Handschriftli-
chen oder gar der Bedeutungsverlust der
Literatur überhaupt aus? Sicher ist es lie-
benswert, im Schulheft von Joachim Sarto-
rius die Seite mit „Oma – Oma – Oma,
Opa – Opa – Opa“-Exerzitien zu bewun-
dern oder Judith Schalanskys Versuche
mit „Mama“ und „Mimi“. Wunderhübsch
auch das zur Ratte mit Geweih mutierte
Rentier im Schulheft von Durs Grünbein.
Sprechend sind die Schreibübungen für
die linke Hand, die Sarah Kirsch jahrelang
aus Angst vor einem Schlaganfall betrieb,
um bei rechtsseitiger Lähmung mit der lin-
ken Hand weiterschreiben zu können. An-
ders Heiner Müller, der in „Ende der Hand-
schrift“ notierte: „Neuerdings wenn ich et-
was aufschreiben will /Einen Satz ein Ge-
dicht eine Weisheit / Sträubt meine Hand
sich gegen den Schreibzwang / Dem mein
Kopf sie unterwerfen will /Die Schrift wird
unlesbar / Nur die Schreibmaschine / Hält
mich noch aus dem Abgrund dem Schwei-
gen.“ So ist dem einen Befreiung, was der
anderen Fessel wäre. Geschrieben aber
wird immer. Vielleicht ist das die eigentli-
che Botschaft der Ausstellung.

Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen, bis


  1. März. Literaturmuseum der Moderne, Marbach.
    Das von Heike Gfrereis und Sandra Richter zur Aus-
    stellung herausgegebene Marbacher Magazin 167
    hat 100 Seiten und kostet 12 Euro.


Für alle Fälle: Eine Schreibübung mit der „linkischen“ Hand der Dichterin Sarah Kirsch,
entstanden im Februar 1989 auf der Insel Pellworm.FOTO: DLA MARBACH

Beim Schreiben mit der Hand


aktivierenwir dreißig Muskeln


und siebzehn Gelenke


„Nur die Schreibmaschine /
Hält mich noch aus dem
Abgrund dem Schweigen“

18 FEUILLETON LITERATUR Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH


ZugumZug


Was ist, was war die Handschrift?


Die Marbacher Ausstellung


„Hands on!“ sucht nach Antworten


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