Süddeutsche Zeitung - 05.10.2019

(Ron) #1
von ruth schneeberger

Berlin– Ein Unfall, ein Herzinfarkt, ein
Schlaganfall– und schon ist der Mensch,
der eben noch mitten im Leben stand, ein
Pflegefall.
Wenn jemand nicht mehr zu Hause le-
ben und dort gepflegt werden kann, stel-
len sich sofort Fragen: Welche Hilfe ist in
Pflegeheimen zu erwarten? Arbeiten dort
genügend Pflegekräfte, sind sie hinrei-
chend ausgebildet? Um das zu beantwor-
ten, sollte der Medizinische Dienst der
Krankenkassen (MDK) die Standards in
den Heimen prüfen. 2009 wurde der Pfle-
ge-TÜV eingeführt, um künftigen Heimbe-
wohnern und Angehörigen mit einem Prüf-
siegel verlässliche Orientierung durch den
Pflege-Dschungel zu bieten.


Die Bilanz: Die fast 14 500 Heime erhiel-
ten durchweg beste Bewertungen: Schul-
note 1,2 im Durchschnitt, deutschland-
weit. „Leider war der bisherige Pflege-
TÜV eine Farce“, erkannte auch Bundesge-
sundheitsminister Jens Spahn. Was ist
schiefgelaufen?
Schon bald nach seiner Einführung
stellte sich heraus, dass das Prüfwerkzeug
nicht funktionierte. Kriterien wie schlech-
te Haut- oder Wundpflege etwa, ein exis-
tenzielles Problem in der Pflege, weil
dadurch sogar das Leben des Patienten


gefährdet sein kann, konnten in der Bewer-
tung ausgeglichen werden durch andere
Kriterien. Darunter schöne Parkanlagen
oder „schriftliche Verfahrensanweisun-
gen zu Erster Hilfe“ im Haus. So kamen die
Bestnoten zustande.
2014 wurde erstmals nachgebessert –
ohne Erfolg. 2015 erhielten Heimbetreiber
und Kassen von der Politik die Auflage, ein
neues Prüfverfahren zu entwickeln. Es
dauerte Jahre, bis ein 600-Seiten-Bericht
vorlag. Kritiker bemängelten schon da-
mals, die Vorschläge seien viel zu kompli-
ziert für alle Beteiligten. Trotzdem wurde
auf dieser Grundlage nun der neue Pflege-
TÜV entwickelt.
Das Ergebnis: Es gibt keine Noten
mehr, dafür Kreise, Drei- und Vierecke,
versehen mit Zahlen. Sie sollen anzeigen,
in welchen Bereichen sich ein Heim über-
oder unterhalb des bundesweiten Prüf-
Durchschnitts befindet. Wie viele Pflege-
kräfte beschäftigt oder wie diese ausgebil-
det sind, fehlt weiter als Bewertungskrite-
rium. Obwohl gerade das für die Pflegequa-
lität ausschlaggebend wäre.
Für Kunden ist das Durchschauen der
Bewertung noch komplizierter geworden,
kritisiert der Vorstand der Deutschen Stif-
tung Patientenschutz, Eugen Brysch. Es
fehle außerdem weiterhin an Transpa-
renz. Damit eigne sich der neue TÜV im Be-
darfsfall kaum als schnelle und eindeutige
Entscheidungshilfe. Gravierende Mängel
wie eine schlechte Hautversorgung wür-
den weiterhin nicht dazu führen, dass ein
Heim geschlossen wird.
Ein Problem, das ebenfalls nicht besei-
tigt wurde: Die Heime prüfen sich weiter
selbst. Nicht nur die Prüfkriterien werden
von den Heimen seit jeher selbst mit den
Kassen ausgehandelt. Die „Pflegeselbst-
verwaltung“ wurde sogar noch verschärft:
Die Einrichtungen geben die Bewertungen
der mühsam erstellten Prüfkriterien nun
selbst alle halbe Jahre ab. Einmal im Jahr
kommt dann der MDK und soll nachvollzie-
hen, ob die Angaben der Wahrheit entspre-
chen. Dazu soll er – und das ist neu – mit
neun Bewohnern pro Heim sprechen.
Wenn die Prüfer den Eindruck gewinnen,
dass die Selbsteinschätzung zutrifft,
kommt der MDK nur noch alle zwei Jahre.
Der neue Pflege-TÜV soll nur die Heime
prüfen. Für die 14 000 ambulanten Pflege-

dienste muss erst noch ein neuer TÜV erar-
beitet werden. Dabei mehren sich gerade
auf diesem Feld die Betrugsfälle, von jähr-
lich bis zu zwei Milliarden Euro Abrech-
nungsbetrug ist die Rede. Vor allem das Ge-
schäft der Intensivpflegedienste bedarf
der Kontrolle, denn es ist so lukrativ (bis zu
30 000 Euro pro Patient und Monat) wie ge-
fährlich. Gerade die Intensivpatienten
sind besonders verwundbar.
Im November 2019 soll der neue Pflege-
TÜV starten, Ende 2020 sollen alle Heime

neu geprüft sein. Deutschlands oberster
Pflegekritiker Claus Fussek würde das Pro-
jekt, das die Versicherten 100 Millionen Eu-
ro pro Jahr kostet, lieber umgehend beerdi-
gen. Sonst müssten die ohnehin überlaste-
ten Pflegekräfte jetzt auch noch lernen,
wie sie die im Rahmen der Selbstverwal-
tung geforderte Bewertung erstellen. In
der Praxis bedeute das: Sie müssten in die-
ser Zeit die Patienten liegen lassen und sie
anschließend für die Prüfung befragen,
wie es ihnen geht. „Das ist Realsatire“, sagt

Fussek. „Die Pflegekräfte sollten sich jetzt
dagegen wehren und diese unsinnige Be-
schäftigungstherapie für die Pflegebran-
che stoppen.“
Der neue TÜV bewirke bei viel Aufwand
keine Verbesserungen in der Pflege. Und
Angehörige hätten bei der Auswahl sowie-
so „keine Wahl“: „Die guten Heime haben
lange Wartelisten“, so Fussek. Anderswo
würden aufgrund des Pflegenotstandes
vermehrt Aufnahmestopps verhängt, gan-
ze Stationen stünden leer.

Dauerpatient


Pflege


Kritiker warnen, auch der neue TÜV werde nichts
an den Zuständen in den Heimen ändern

Athen– Innenminister Horst Seehofer
(CSU) will sich in der EU für eine neue Asyl-
politik einsetzen, die mehr Rücksicht auf
die Staaten an den Außengrenzen der EU
nimmt, zu denen auch Griechenland ge-
hört. Dies betreffe den Grenzschutz, aber
auch die Verteilung von Flüchtlingen, sag-
te Seehofer am Freitag in Athen. Wenn die
EU nicht die Kraft habe, das große Thema
Migration „solidarisch zu lösen“, dann dür-
fe sich niemand einbilden, „dass das The-
ma weg ist“, warnte der CSU-Politiker.
Seehofer hatte vor Athen die Türkei be-
sucht. In Ankara hatte er angekündigt, er
werde mit der neuen EU-Kommission, die
am 1. November unter der deutschen Poli-
tikerin Ursula von der Leyen antritt, auch
über zusätzliche Mittel für die Türkei zur
Unterstützung von Flüchtlingen spre-
chen.In Athen fügte er hinzu, „wenn wir
Griechenland und der Türkei helfen, dann
dient dies auch den Interessen der Bundes-
republik“. Einen „temporären Kontrollver-
lust“ wie 2015, als Hunderttausende
Flüchtlinge nach Deutschland kamen, dür-
fe es nicht mehr geben. Seehofer wandte
sich auch gegen „diejenigen, die gemütlich
vom Sofa aus 2000 Kilometern Entfer-
nung über Migration sprechen“.
2016 hatte die EU im Rahmen eines
Flüchtlingspakts der Türkei sechs Milliar-
den Euro für drei Jahre zugesagt. Davon
sind nach EU-Angaben 4,2 Milliarden
Euro vertraglich vergeben, aber nur

2,6 Milliarden ausgezahlt.Präsident Re-
cep Tayyip Erdoğan hatte zuletzt mehr-
mals beklagt, die Hilfen der EU flössen
nicht rasch genug. Er forderte mehr Unter-
stützung, andernfalls könnte die Türkei ih-
re Türen Richtung EU öffnen. Zuletzt war
die Zahl der Flüchtlinge, die auf griechi-
schen Ägäisinseln ankommen, bereits
stark gestiegen. Auf die Frage, ob er dafür
in Ankara eine Erklärung erhalten habe,
sagte Seehofer der SZ, auch die Türkei ste-
he derzeit unter hohem Migrationsdruck.

Am Flüchtlingspakt mit der Türkei müs-
se unbedingt festgehalten werden, sagte
Seehofer. Das betonten auch Seehofers
griechische Gesprächspartner, Bürger-
schutzminister Michalis Chrysochoidis
und Premier Kyriakos Mitsotakis.
Mit dem Pakt hatte die EU der Türkei
im Gegenzug auch Visa-Erleichterungen
versprochen. Dazu sagte Seehofer in
Athen, er habe in Ankara auch auf Rechts-
staatsverletzungen hingewiesen. Solange
es die gebe, „können wir mit der Visa-Libe-
ralisierung nicht weitermachen“. Auch
Erdoğans Plan, eine Million Syrer aus der
Türkei in eine „Sicherheitszone“ in Syri-
ern umzusiedeln, war Thema der Gesprä-
chen mit Innenminister Süleyman Soylu
und Vizepräsident Fuat Oktay. Dazu sagte
Seehofer, hierüber müsse die Türkei erst
einmal mit den USA einig werden. „Vorher
kann man nicht von mir verlangen, dass
ich dazu Yes oder No sage.“ Erdoğan will
auch für den Bau neuer Städte in Syrien of-
fenbar finanzielle Unterstützung.
An Donnerstag, als Seehofer in der Tür-
kei eintraf, wurde dort erneut eine deut-
sche Staatsbürgerin festgenommen. Wie
die Kurdische Gemeinde in Deutschland
mitteilte, wurde die 58 Jahre alte Hambur-
gerin am Flughafen Diyarbakır festgenom-
men. „Der Fall ist dem Auswärtigem Amt
bekannt und wird von unserer Botschaft
konsularisch betreut“, sagte ein Sprecher
des Amts. christiane schlötzer

Leipzig– Gut einen Monat nach der Land-
tagswahl in Sachsen haben die Spitzen
von CDU, Grünen und SPD ihre Sondierun-
gen abgeschlossen und angekündigt, in
den jeweils eigenen Lagern für die Aufnah-
me von Koalitionsverhandlungen werben
zu wollen. Diese könnten bei Zustimmung
aller Beteiligten in der Woche vom 21. Ok-
tober an beginnen. Grundlage dafür wäre
dann ein gemeinsames Papier, das die
drei Parteien zum Abschluss der Sondie-
rungen vorstellten.
Ministerpräsident Michael Kretschmer
(CDU) sagte, „wir wollen nicht verwalten,
sondern gestalten“. Ihn persönlich leite
bei den Verhandlungen für eine neue Re-
gierung der Ruf von 1989 „für ein offenes
Land mit freien Menschen“. Diesen Geist
trage das vorliegende Sondierungsergeb-
nis. Kretschmers Stellvertreter Martin Du-
lig (SPD) sagte, es brauche „ein neues Wir-
Gefühl für Sachsen“ und stellte einen
„neuen Stil in der sächsischen Politik“ in
Aussicht. Katja Meier von den Grünen be-
tonte ihrerseits die Einigkeit der drei Par-
teien in vielen Fragen, fügte allerdings an,
in möglichen Koalitionsverhandlungen

sei „noch ein weiter Weg“ zu gehen. Tat-
sächlich sind im Sondierungsergebnis auf
13 Seiten bereits einige teils sehr konkrete
Ziele festgehalten, jedoch fehlt es naturge-
mäß noch an der Skizzierung möglicher
gemeinsamer Wege dorthin.

Grundsätzlich deutet das Papier die un-
terschiedlichen Interessen und Ausgangs-
lagen der möglichen Koalitionäre nach
der Wahl an. Die CDU war bei dieser Wahl
zwar stärkste Kraft geworden, hatte je-
doch wie auch der bisherige Koalitions-
partner SPD an Zustimmung eingebüßt,
weswegen jetzt allein eine zusätzliche Be-
teiligung der Grünen die Regierungsmehr-
heit zu sichern vermag. Während die CDU
nun gewisse inhaltlich große Linien zu ver-
teidigen versucht, fallen Grüne und SPD
im Sondierungspapier mit konkreten Ver-
suchen auf, ihr Profil in eine mögliche Koa-
lition einzubringen.

So sagte Sachsens SPD-Chef Dulig, sei-
ne Partei wolle für höhere Tarifbindung
und längeres gemeinsames Lernen eintre-
ten. Auch der Weg zur Einführung der Ge-
meinschaftschule sei nun frei, wenngleich
der Passus gerade dazu eher vage ausfällt.
Die Grünen wiederum haben eine Stär-
kung des Radverkehrs in Sachsen sowie ei-
ne stärkere ökologische Orientierung et-
wa in der Landwirtschaft im Ergebnis ver-
ankert. Für die CDU schließlich dürfte un-
ter anderem wichtig gewesen sein, dass
das Sondierungspapier den zu Beginn die-
ses Jahres auf Bundesebene ausgehandel-
ten Braunkohlekompromiss inklusive des
Ausstiegsdatums 2038 nicht wesentlich
angreift. Stattdessen werden CDU, Grüne
und SPD auf diesem Themenfeld auf fast
wunderliche Weise konkret. So ist in der
Übereinkunft von einem mindestens sach-
senweit berühmten Ort im Landkreis Leip-
zig zu lesen, der seit Jahren von einer Tage-
bauerweiterung bedroht ist. Dort wird
man froh sein zu lesen: „Die Parteien
möchten den Ort Pödelwitz erhalten und
die Inanspruchnahme der Ortslage ver-
meiden.“ cornelius pollmer

Pflegebedürftige werden zu
Hause betreut, fast
1,8 Millionen von ihnen
von ihren Angehörigen oder
privaten Pflegern.
In Heimen werden
700 000 Menschen
gepflegt.

Berlin– Für mehr Klimaschutz will die
Bundesregierung die Steuer auf Flugti-
ckets je nach Strecke um rund drei bis 17
Euro pro Ticket erhöhen. Das geht aus
einem Entwurf des Finanzministeriums
hervor, welcher der Deutschen Presse-
agentur vorliegt. Ursprünglich waren
deutlich höhere Aufschläge im Gespräch
gewesen. Die Änderung ist zum 1. April
2020 geplant. Konkret soll die Luftver-
kehrsteuer für Flüge im Inland und in
EU-Staaten um rund drei Euro steigen –
auf dann 10,43 Euro pro Ticket mit Start
von einem deutschen Flughafen. Bei
Strecken bis 6000 Kilometer ist eine
Erhöhung um mehr als neun Euro auf
32,57 Euro vorgesehen. Bei noch
weiteren Fernstrecken sollen künftig
58,63 Euro fällig werden. Das wären
rund 17 Euro mehr als bislang. dpa

Seehofer beschwört EU-Solidarität


Bundesinnenminister tritt in Athen und Ankara für eine neue Asylpolitik ein


Freiheit für Pödelwitz


In Sachsen beenden CDU, Grüne und SPD mit Zuversicht ihre Sondierungen


2,


Millionen


Berlin–Die Bundesregierung hat eine
brisante Rüstungslieferung an die in den
Iran-Konflikt verstrickten Vereinigten
Arabischen Emirate genehmigt. Der von
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geleitete
Bundessicherheitsrat gab in seiner jüngs-
ten Sitzung sein Plazet für den Export
von Stromaggregaten für ein Luftab-
wehrsystem. Das geht aus einem Schrei-
ben von Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) an den Wirtschafts-
ausschuss des Bundestags hervor. Liefe-
rant ist Jenoptik Power Systems. Die
Exportgenehmigung ist heikel, weil der
kleine Golfstaat mit riesigen Ölvorkom-
men lange Zeit an vorderster Front an
der Seite Saudi-Arabiens gegen die von
Iran unterstützten Huthi-Rebellen in
Jemen gekämpft hat. dpa

Zwickau –Ein im Gedenken an ein
Mordopfer der Terrorzelle NSU gepflanz-
ter Baum ist in Zwickau nach Angaben
der Stadt abgesägt worden. „Das Absä-
gen des Baumes zeugt von Intoleranz,
mangelndem Demokratieverständnis
und von Verachtung gegenüber Terror-
opfern und deren Angehörigen“, teilte
Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD)
am Donnerstag mit. Zuvor hatte die
ChemnitzerFreie Pressedarüber berich-
tet. Die deutsche Eiche erinnerte an
Enver Şimşek. Am 9. September 2000
feuerten die Rechtsterroristen Uwe
Mundlos und Uwe Böhnhardt in Nürn-
berg neun Mal auf den Blumenhändler,
er starb zwei Tage später.dpa Seite 4

6 POLITIK HF3 Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH


Die drei Parteien wurden beim
Thema Braunkohleausstieg
bereits ziemlich konkret

Mensch im Mittelpunkt: Dass dies der neue Pflege-TÜV leistet, bezweifeln Experten. FOTO: FRANK RUMPENHORST/DPA

Innenminister Seehofer mit seinem tür-
kischen Kollegen Soylu in Ankara. DPA

Waffenexport in die Emirate


NSU-Mahnmal geschändet


Inlandsflüge drei Euro teurer


INLAND


... OB SELBST SPAREN ETWAS KOSTET?

EGAL

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