Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1

Berlin


12 * Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


Dinge (3):


Roller


I


chhabemirmaleinpaarderRoller
näher angeguckt, die neuerdings
überall imWege stehen, als sei die
ganzeInnenstadtderParkplatzeines
Riesen-Kindergartens.Erwachsene
MenschenfahrenaufdiesenE-Scoo-
ternini nfantilerManierherum,mit-
unter zu zweit und zu dritt, oft auf
dem Gehweg oder im Zickzackkurs
aufderStraße,mitdemTelefoninder
Hand, nicht selten betrunken. Mein
innerer Berliner schlägt die Hände
übermKopf zusammen und ruft:
„Man lässt doch nich den Kinderjar-
tenuffdeStraße!Ditisjefährlich!“
Ausder Nähe besehenist solch
ein Roller durchaus interessant.
GanzhintenaufdemTrittbrettsteht:
„Hier bremsen“.Einwichtiger Hin-
weis.HoffentlichtrifftderHackenim
entscheidendenMoment auch den
richtigenPunkt. An der Lenksäule
kannmanlesen:„Behinderenieden
Gehweg oder den Verkehr“. Leider
stehtderHinweissoweitunten,dass
mansichbeimFahrenbückenmuss.
Rumms –schon hat man eine Oma
umgefahrenoderistaufdieKühler-
haubeeinesAutosgekracht.
Ichmuss zugeben:Ichwar selbst
maleinrichtigerRoller-Fan.AlsKind
liebte ich mein Gefährt: metallic-
weinrot,mitweißenRädern,geriffel-
tem Trittbrett, Bremse und kleinem
SitzüberdemHinterrad.Vorunserem
Haus bildete die Straße einen Halb-
kreis,diesogenannteRunde.Siewar
wie ein kleines Stadion, auf drei Sei-
ten vondenWohnhäusernflankiert.
WennirgendwoaufderWelteinwich-
tigesSportfeststattfand,wurdeesvon
uns Kinderninder Runde nachge-
spielt. Zuvormalten wir mit Kreide
BahnenaufdieStraße.
EinmalimJahrgabeseingroßes
Radrennen. Nein, ich meine nicht
die Tour de France,den irren Profi-
zirkus.Das Rennen hieß Friedens-
fahrt. Dasgrößte Amateurrennen
derWeltwar1948gegründetworden
undführteüberWarschau,Pragund
Berlin.Tagelangspieltenwiresnach.
Alle Kinder der Gegend buckelten
ihreRollerausdemKellerundtraten
amKreidestrichan.Nachdem Start-
signal setzte sich derTross aus gro-
ßenMetall-undkleinenHolzrädern
in Bewe gung, raste,eierte ,schep-
perte über den Asphalt.Natürlich
krachteauchmaljemandaufsPflas-
ter.Genau wie im echtenRennen,
nur dass dortmeist nicht geheult
wurde .Jedenfallsnichtsolaut.
MitderZeit wurde icheinrichti-
ger Roller-R owdy.Ich glaube,ich
topptedieGeschwindigkeitenheuti-
gerE-Scooter-Fahrer.Hinzukamen
Kunststückchen,diemanheutelie-
bernichtaufderStraßemacht.Eine
Herausforderungwar,sichwährend
desFahrensaufdenkleinenSitzzu
hockenundtrotzdemdieBalancezu
halten.Manchmalfuhraucheinan-
dereraufdemSitzmit.Ermusstedie
Beine hochziehen, während es im
AffenzahnüberdieStraßeging. Oder
ichgenosses,mitvollemTempoins
Gebüsch hineinzurauschen und
mich fallenzulassen.In In dianerfil-
men hatte ich gesehen, wieReiter
vomPferdstürzten. Auchdasstellte
ichnach.IchsprangbeimFahrenab
undderRollersaustezwei,dreiMe-
terweiter.Krawolz!
Eines Tages sagte sich derRoller
wohl: Ochnöö, das brutaleVieh er-
tragichnichtlänger.Underbrachun-
ter mir auseinander,mitten in der
Fahrt. Gottsei Dankkamichglimpf-
lichdavon.MeinVatergucktegerade
aus demFenster.Sein Gesicht be-
stand vorSchreck nur noch aus drei
runden Flecken: großenAugen und
einemO-Mund.
Aufheutige E-Scooter stelle ich
michliebernicht.Ichwilldas Roller-
Rowdie-Geninmirnichtwiederak-
tivieren.ZumSchutz der urbanen
Umwelt und ihrerBewohner.Auch
anderenseidiesangeraten.


Harmsens Berlin


TorstenHarmsen
erzähltinloserFolgeüber
denWandelderDinge
imLeben.

VonThomas Kröter

Z


uerst war es nur einGe-
rücht, dass dasTangoloft
seine Räume in derWed-
dinger Gerichtstraße ver-
liert. Inzwischen gibt es dieBestäti-
gungausberufenemMunde:„Unser
Mietvertrag wirdnicht verlängert“,
schrieb Mona Isabelle Schröter,die
ChefindesTangolofts,aufFacebook.
Steht damit die größte und für viele
wichtigsteInstitution der Berliner
Tangoszenevordem Aus? „Nein“,
sagt die temperamentvolleUnter-
nehmerin, „wir machen weiter.“
SchließlichseidasLoftschoneinmal
unfreiwilligumgezogenunddanach
umso schöner wieder erstanden.
Aber wohin das neue Loft ziehen
wird, kann sie imGespräch mit der
BerlinerZeitungnochnichtsagen.
BerlinisteininternationalerHot-
spot des Tango-Argentino.Seine
„europäischeHauptstadt“ lässt sich
die hiesige Szene gernnennen. Der
Stadtplaner ArnoldVoss sieht sie in
einer„unaufhaltsamenAufwärtsspi-
rale“begriffen.DieStadtsei„alsso-
ziales und künstlerisches Ganzes
zumnationalenundinternationalen
Magneten aufgestiegen“, schreibt

derbegeisterteTänzerinderaktuel-
len Ausgabe derTangodanza, der
einzigenZeitschrift inDeutschland,
diesichnurdemTangowidmet.
DabeizeichnedieBerlinerTango-
Szene gegenüber anderen deut-
schen Städten eine Besonderheit
aus,meintVoss.Normaler weise do-
miniertimTango dieGeneration 40
plus.Hiergebeesdagegeneine„im-
mer größerwerdende Alterskohorte
zwischen20und30“.

2019 jährtsich zum 25.MalBer-
linsPartnerschaftmitBuenosAires–
jener Metropole am Rio de laPlata,
wo der erotischste und geheimnis-
vollsteTanzder Weltvormehralsei-
nemJahrhundertentstandenist–in
einer CommunityvonEinwande-
rern aus allerWelt. Nicht zuletzt
diesePrägungdurchZuwandererist
es,diebeide Städteverbindet.
BuenosAireserlebtindiesenTa-
gen einmal mehr eine wirtschaftli-
cheundfinanzielleKrise.KlausWo-
wereits berühmtesBonmot aufneh-
mend, sagt UweMohn, der Leiter
desdortigenGoethe-Instituts:„Arm,
abersexy,daspasstauchzuBuenos
Aires.“ Berlin dagegen leidet gerade
eherunterseinemBoom.ImJubilä-
umsjahr der Städte-Partnerschaft
breitet sich deshalbUnsicherheit in
derhiesigenTango-Szeneaus.
Denndie Gentrifizierunghatden
Tangoerreicht.Vorbeidie Zeiten,da
die Tänzerinnen und Tänzer sicher
sein konnten, für verg leichsweise
kleines Geld unbeschwertine iner
ehemaligen Industrie-Etage oder
anderen bröckelndenImmobilie ih-
rerLeidenschaftzufrönen.DasTan-
goloftetwamisstmitNebenräumen
großzügige700Quadratmeter.
Mietverträge laufen auch an-
derswobaldausoderwurdengekün-
digt.Betreiber verhandelnmitihren
Vermieternüber neueVertragskon-
ditionen.Nureins ist sicher:Teurer
wirdesa ufjeden Fall.
DieEintrittspreise ziehen bereits
an.Stattfünf Eurobis5,50 Eurosind
immeröftersieben,gelegentlichso-
garzehnzuzahlen.Dalöstesinder
gesamten SzeneErleichterung aus,
wenn das Noutango,eine der drei
großen Tangoschulen,bekanntgibt:
„Wir wurdenverlängert.“EinUm-
stand,derfrühernieeinThemawar.
DiePhonstärke einer „Milonga“,
wie die Tango-Veranstaltungen hei-
ßen, ist mit der einerTechnoparty
nicht im entferntestenvergleichbar.
DochdiegegenwärtigeEntwicklung
erinner tdurchausandenBeginndes
viel zitierten „Clubsterbens“ in der
Techno-Szene.Dennwohlbetuchte
ErwerberveredelterIndustrieimmo-
bilien möchten am liebsten ländli-
cheRuhemitteninderStadt.
So war etwa der Tango unter
freiem HimmelimMonbijou-Parkin
diesemJahrnurnochunterstrengen
akustischen undzeitlichen Auflagen
möglich gewesen.Wiees2 020 wird?
EineoffeneFrage.
Michael Rühl, der seitJahren am
Ufer de rSpree fürtraditionelleTan-

gomusik sorgt, fühlt sichvomSenat
undBezirkimStich gelassen.„Ich
versteh’s nicht“, sagt derMann, der
zu den wichtigen deutschenTango-
DJszählt.„Diesollendochfrohsein,
über eineAttraktion nicht nur für
Tänzer ,sondernfür die Touristen.
Diebleibenstehen,staunenunder-
zählen zum Smartphone-Foto zu
Hause,was sie Tolles in Berlin gese-
henhaben.“
Eineanderweitigvielgescholtene
Institution hat dagegen denTango
als Image-Faktor erkannt: dieDeut-
sche Bahn. Seit einigenJahren be-
herbergtsieimBerlinerHauptbahn-
hofdas ContemporaryTangofestival
(CTF),zudessenVeranstalternMona
Isabelle Schröter gehört. FünfTage
im August sind hier bis tief in die
Nachtdie verschiedenstenundzum
Teil schrägstenVarianten desTango
zuhörenundzusehen.
VieleReisenden reagieren erst
einmalirritiert,wennihnenamFuß
derRolltreppe vomBahnsteigplötz-
lich einTanzpaar mitraumgreifen-
den Beinbewegungen entgegen-
kommt. Diemeisten ab er bl eiben
kurzoder auch länger stehen,
lauschen imBahnhofslärmauf die
Musik und machen interessierte
Mienezum fremdartigenSpiel. Die
Werbegemeinschaft der Bahnhof-
kaufleutefinanziertdasSpektakel.
Einwenig seltsammutet der
Tango anfangs sogarMenschen an,
diesichbereitslängerdemPaartanz
verschrieben haben.Sabine Harms
etwa ka nn sich noch gut erinnern,
wie sie vorJahren nach ihremStan-
dard- und Latein-Kurs zum ersten
Malden Tango-Paaren zugeschaut
hat,dieinderselbenTanzschulege-
übt haben.„Ich war fasziniert“, sagt
die Ärztin ausWilmersdorf.Da war
diese einerseitsrhythmische,ande-
rerseits wehmütigeMusik, dazuBe-
wegungsmuster,die sie nicht
kannte,Männer undFrauen, die im
Paar unterschiedliche Schritte tanz-
ten...„Dashatmichhineingezogen.“
AndersalsdiemeistenTänzerin-
nen und Tänzer,die einmal beim
Tango angekommen sind, gehtSa-
bine Harmsallerdingsweiter zum
Ballroom-Dancing, seit einer Zeit
obendreinzumSwing.
Diesen vorwiegend fröhlichen
unddenehermelancholischenTanz
verbindet eine nur auf den ersten
Blick erstaunlicheGemeinsamkeit:
Beide werden zum überwiegenden
Teil impr ovisiert. In den Standard-
und Latein-Tänzen lernen die Ak-
teureina ller Regel vorgegebene

LOCATIONS

Tango-Schulen:DreigroßeTangoschulen
gibt es in Berlin, sie bieten ihrem norma-
len Kursprogramm kurze Einsteiger-Work-
shops an: Mala Junta (Kolonnenstr.29,
http://www.malajunta.de), Noutango(Chaus-
seestr.102, http://www.noutangoberlin.de)
sowieTangotanzen macht schön (Orani-
enstr.185, http://www.tangotanzenmacht-
schoen.de)

Milongas:In zahlreichen Locations gibt
es wöchentlicheTanzveranstaltung.
Nachfolgend eine kleineAuswahl: im
Tangoloft (Gerichtsstr.23) sonntagsvon
15 bis2Uhr,imBebob (Pfuelstr.5)
dienstagsvon21bis 2Uhr,imSpiegel-
saal in Clärchens Ballhaus (Auguststr.
24) dienstagsvon 21 bis2Uhr,inder
VillaKreuzberg (Kreuzbergstr.62) don-
nerstagsvon21bis 2.30Uhr,bei
Walzer Linksgestrickt (AmTempelhofer
Berg 7d) sonnabends 21 bis 3.30 Uhr.

Internetportale:Gut informieren kön-
nen sich Interessierte auf denWebsites
http://www.hoy-milonga.com/berlin/de
http://www.tango-argentino-online.com

Video:Wererstmal gucken möchte, wie
es geht,dem sei ein LehrvideovonNicole
Nau und LuisPereyra„TangoArgentino. 9
archaische Elemente“ empfohlen.
http://www.vida.show

Schrittfolgen,diesichübermehrere
Takteerstrecken.Außerdemgibtdie
MusikeinbestimmtesTempovor.
Anders imTango, jedenfalls so-
weit die Tänzer über das Anfänger-
Stadiumhinausgekommensind.Da
entscheiden sie,obs ie der brum-
melndenStimme desBandoneons
folgenoderdenGeigen,obsieaufje-
denTaktschlag einen Schritt setzen,
nuraufjedenzweitenoderobsieihr
Tempo sogar verdoppeln wollen.
Dasführtzudem erstaunlichenEf-
fekt, dass jedesPaar et wasa nderes
tanzt. Unddennoch beziehen sich
alle auf dasselbeMusikstück.Das
lässtdieLaienrätseln.
Nichtzu verg essene inPunkt,der
Zuschauer besonders fesselt, die
noch nichts mit demTango zu tun
hatten: die Tanzhaltung. In den
meistenTango-Shows,die aufder
BühneoderinFilmund TVzusehen
sind,schauendieProfi-Paar eeinan-
derglutäugiganundvollführendazu
ziemlichakrobatischeBewe gungen.
DieTänzerinnenund Tänzer in
den normalen Locations gehen
meistandersmiteinanderum.Inni-
ger.DieOberkörperscheinenanein-
ander zu kleben.Wangen liegen an
Wangen. Bewe gung istvorallem in
denBeinen zusehen.Sieumspielen
einander;manchma lgibteskleine
Hakeleien. DieseBeobachtung gibt
dem berühmtenVorurt eilNahrung,
TangoseidievertikaleSublimierung
dessen, was zweiMenschen in der
Horizontalentreibenmöchten.
Da kann derAutor dieses Textes
aus mehr als einem Jahrzehnt
Tango-Erfahrung Entwarnung ge-
ben:TangoistnichtSex-affineralsje-
der anderePaartanz –nur kompli-
zierter .Imü brigen ist er–wie der
Swing–als „social dance“ organi-
siert. DamitPaare nich teinen gan-
zenAbend lang aneinander kleben,
gibt es ein paar„Codigos“, alsoRe-
geln. Beider Durchsetzung dieser
Regeln hilft schon die Organisation
einer Milonga in sogenanntenTan-
das.Das sind Einheiten aus drei bis
vier Liedern,verstummt dasTango-
Orchester anschließend, trennen
sich diePaare. Damitdas au ch nie-
mandverg isst,s ignalisierteine„Cor-
tina“( Vorhang), dass die nächste
(Tanz-)Partnersucheangesagtist.
WievieleMenschentanzenTango
in Berlin? Dasist schwerer zu sagen
alsbei anderenTänzen, da dieZu-
sammenhänge in den Schulen und
Kursen weniger verbindlich sind als
anderswo.Esg ibtauchkeine Erhe-
bungen über dieTeilnahmeanden

BLZ/GALANTY

Tangotanzen
macht schön

Noutango

Mala Junta

„Die Oberkörper


scheinen


aneinander zu


kleben.Wangen


liegen anWangen.


Bewe gung istvor


alle mind en


Beinen zu sehen.


Sieumspielen


einander.“


Derletzte


Tango


DieGentrifizierunghatauchBerlinsTanzszeneerreicht:


SowirdderMietvertragdesTangolofts,einesderbekanntesten


Etablissements,nichtverlängert.DieBetreiberinmussaufdem


überhitztenImmobilienmarktneueRäumefinden.


AndereLocationsleidenunterMieterhöhungen.


Auch in Clärchens Ballhaus in Mitte wird regelmäßigTango getanzt.
VOLKMAR OTTO

DasTango-Loft imWedding zählt den wichtigsten Locations der Szene.
SASKIA UPPENKAMP
Free download pdf