Politik
4 * Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
NACHRICHTEN
Bericht: Johnson will notfalls
doch Brexit-Verschiebung
DerbritischePremierministerBoris
JohnsonwillBerichtenzufolgedoch
eineVerlängerungderBrexit-Frist
beantragen,solltekeinDealmitder
EuropäischenUnionzustandekom-
men.DasgehtderbritischenNach-
richtenagenturPAzufolgeauseinem
Dokumenthervor,dasam Freitagei-
nemGerichtinSchottlandvorg elegt
wurde .EinRegierungssprecher
wolltesichaufAnfragederDeut-
schenPresse-AgenturunterVerweis
aufdaslaufendeVerfahrennicht
dazuäußern.(dpa)
Bundesregierung genehmigt
Waffendealan Emirate
DieBundesregierunghateinebri-
santeRüstungslieferungandiein
denIran-KonfliktverstricktenVerei-
nigtenArabischenEmirategeneh-
migt.DervonKanzlerinAngelaMer-
kel(CDU)geleiteteBundessicher-
heitsratgabinseinerjüngstenSit-
zunggrünesLichtfürdenExportvon
StromaggregatenfüreinLuftab-
wehrsystem.Dasgehtauseinem
SchreibenvonBundeswirtschafts-
ministerPeterAltmaier(CDU)an
denWirtschaftsausschussdesBun-
destagshervor,dasderDeutschen
Presse-Agenturvorliegt.Lieferantist
JenoptikPowerSystems.(dpa)
Ostritz verbietet
Neonazi-Kampfsporttreffen
DiesächsischeStadtOstritzhatdie
alsNeonazi-Kampfsporteventein-
gestufteVeranstaltung„Kampfder
Nibelungen“verboten.Einenent-
sprechendenBescheiderhieltam
FreitagderAnmelderderfürden12.
OktoberangekündigtenVeranstal-
tung,wiedieStadtunddiePolizeidi-
rektionGörlitzmitteilten.(AFP)
Hongkong: Eilantrag gegen
Vermummungsverbot
In Hongkong gibt es seit Monaten Proteste
–teils mit vermummten Demonstranten.DPA
AktivistenhabendasVermum-
mungsverbotinHongkongineinem
Eilantrag vordasObersteGerichtge-
bracht. DerfrühereStudentenführer
LesterShumundder„Langhaar“ge-
nannteVeteranderDemokratiebe-
wegung,LeungKwok-hung,versuch-
tenam Freitagabend,nochvordem
InkrafttretendesVermummungsver-
botesumMitternachteineeinstwei-
ligeVerfügungzuerreichen.(dpa)
DutzendeTote bei Protesten
im Irak
DieZahlder Totenbeidenmehrtägi-
genProtestenimIrakist weitergestie-
gen.SeitBeginnder Protestevordrei
Tagenseien38MenschenumsLeben
gekommen,davon35Demonstran-
ten,teiltedieHoheMenschenrechts-
kommissioninBagdadamFreitag
mit.Demnachwurdenmehrals 1600
Menschenverletzt.InderHauptstadt
sowieinmehrerenanderenProvin-
zenvorallemimSüdendesLandes
warenamDienstagProtestegegen
KorruptionundMisswirtschaftaus-
gebrochen.Sicherheitskräftegingen
mitTränengasundSchüssenindie
LuftgegendieDemonstrantenvor.
Aucham Freitagversammeltensich
MenschenzumProtestan Plätzenin
derHauptstadt.(dpa)
Frankreich
rätseltüber
Messerangriff
PariserBehördenermitteln
wegenTerror-Verdachts
VonBirgit Holzer,Paris
E
in höflicher,zurückhaltender
Mannwar MickaëlH.,beliebtbei
seinen Kollegen derPariser Polizei-
präfektur.Als angenehmenZeitge-
nossen beschreiben auch dieNach-
barndenVaterzweierKinder.Umso
unbegreiflicher scheint es,dass der
45-Jährige,der seit 16 Jahren beim
Nachrichtendienst der französi-
schen Polizei für Datenüberwa-
chung und -auswertung zuständig
war,amDonnerstagmittagmit ei-
nemKüchenmesserausKeramikauf
mehrereKollegenlosging.
Zunächst verletzte er in einem
Büroimersten Stock der Polizei-
hauptdienststellezweiPolizistenund
einen Verwaltungsbeamtenaus sei-
ner Diensteinheit tödlich.Im An-
schlusstöteteerimTreppenhauseine
PolizistinundfügteeinerMitarbeite-
rinder Personalabteilungschwere
Verletzungenzu. Im Vorhof des Ge-
bäudesstellteeinjungerPolizistden
Angreifer.Der Beamte forderte den
45-Jährigenvergeblichauf,seinMes-
ser niederzulegen, und tötete ihn
schließlichmiteinemKopfschuss.
ZumIslamkonvertiert
In der Folge wurde die Polizei-
DienststelleaufderPariserSeine-In-
sel Île de la Cité großräumigabge-
sperrt. PräsidentEmmanuel Mac-
ron, der ein „wahres Drama“ be-
klagte,Regierungschef Édouard
PhilippeundInnenministerChristo-
phe Castaner eilten zum Tatort. Er-
mittler durchsuchtendie Wohnung
desTätersundseinerFrauimPariser
Vorort Gonesse,die wie Mickaël H.
hörbehindertist. Siekam in Unter-
suchungshaft.FranzösischenMedi-
enberichten zufolge sagte sie aus,
dassdieserinderNachtvorderBlut-
tatgeglaubthabe,erh öreStimmen,
auch sei erverstörtgewesen.Der
Mann,derinFort-de-Franceaufder
französischen Karibikinsel Marti-
nique geboren wurde,war vor
Monaten zumIslam konvertiert.Er
besuchteregelmäßig dieMoschee,
doch Anzeichen einerRadikalisie-
rung gab es zunächst nicht.Den-
noch leiteten die Antiterror-Spezia-
listen der Staatsanwaltschaft am
FreitagabendErmittlungen ein.Der
Polizeipräfekt vonParis sagte,er
schließe„keineHypothese“aus.
Innenminister Castaner zufolge
hatte es bislang „keinerleiAuffällig-
keiten imVerhalten“ desTäters oder
auch nur das geringsteWarnsignal
gegeben.DerMannwarimNachrich-
tendienst beschäftigt, dessenMitar-
beiter alle fünfJahreeiner Überprü-
fungunterzogenwerden.Diefranzö-
sischePresseschriebam Freitagaller-
dingsvoneinemmöglicheninternen
Konfliktundeiner„beruflichenFrus-
tration“vonMickaël H., der in der
Hierarchie aufsteigen wollte und ei-
nen Übersetzer fürGehörlosenspra-
cheeingeforderthatte.Ergehörtezur
KategorieCdesöffentlichenDienstes
mitdemgeringstenVerantwortungs-
niveau und der niedrigstenBezah-
lung. Seine Frau so ll laut Medienbe-
richtenausgesagthaben,erhabesich
über mangelndeWertschätzung sei-
nerVorgeset ztenbeklagt.
Polizisten sperrten inParis denTatort
weiträumig ab. AFP
FinanzielleundtechnischeHilfe
InnenministerHorstSeehoferwirbtbeiGesprächeninAnkaraundAthenumdenFlüchtlingspakt
VonGerd Höhler,Athen
H
ält der Flüchtlingspakt
mit der Türkei? Oder
schickt AnkaraMillio-
nenMigrantennachEu-
ropa?DarumgingesbeidenGesprä-
chen, die Bundesinnenminister
Horst Seehofer (CSU) und der EU-
MigrationskommissarDimitrisAvra-
mopoulosamDonnerstagundFrei-
taginAnkaraundAthenführten.
Inder griechischenHauptstadt
beschworSeehoferamFreitagabend
die europäischeSolidarität in der
Flüchtlingspolitik. Wenn man die
Krise nicht gemeinsamund solida-
rischlöse,droheeineNeuauflagedes
Chaos-Jahres2015,warnteSeehofer.
Deshalb verdienten Griechen und
Türken Hilfe,denn „das hilft auch
uns“.
ÜberfüllteErstaufnahmelager
DieZahlen,dieSeehoferimMiniste-
rium für Bürgerschutzan der Athe-
ner Katechaki-Straße zu hören be-
kam, sind beunruhigend:Seit Mai
hatsichdieZahlderFlüchtlingeund
Migranten, die aus der Türkei über
die Ägäis kommen,gegenüberdem
Vorjahr verdoppelt; in der letzten
Septemberwochewarsiesogarfünf-
mal so hoch wie 2018. Zufall? Die
Griechen glaubeneher an Erpres-
sung: DieTürkei lasse nun den
SchleuserfreiereHand, um bei der
EUneueFinanzhilfenlockerzuma-
chen. Griechenlandist der Leidtra-
gendedieserKraftprobe:DieLagein
denüberfülltenErstaufnahmelagern
auf den Inseln wirdimmer explosi-
ver. Über 31 000 Menschen hausen
inCamps,dienurfür8700Personen
konzipiertsind.
Seehofer kam in Begleitungdes
EU-MigrationskommissarsDimitris
Avramopoulos nach Athen. Zuvor
waren beide Männerin Ankara. Av-
ramopoulosdrängtedie Türkei, ge-
gen die steigendeZahl vonMigran-
ten-Überfahrtenvorzugehen.„Esist
dringend nötig, ungesetzlicheAb-
fahrten aus der Türkei noch stärker
zu verhindern“, sagte Avramopou-
los.ObderAppelletwasbewirkthat,
wirdsich vielleichtin den nächsten
Tagen zeigen –falls die Zahlen zu-
BLZ/GALANTY; QUELLE: UNHCR, DPA
BULGARIENBULGARIEN
NORD-
MAZEDONIEN
NORD-
MAZEDONIEN
ALBANIENALBANIEN
TÜRKEI
GRIECHEN-
LAND
GRIECHEN-
LAND
Istanbul
Thessaloniki
Athen
Ägäis
Schwarzes
Meer
Mittelmeer
100 km
101
Kastell-
orizo
186
Rhodos
Kreta
1691
Symi
Kos
203
24 Leros 15 Kalymnos
Samos
Chios
Lesbos
Evros
(alle Landweg-
ankünfte)
9749
16 075
4254
6580
4330
Flüchtlingsankünfte in Griechenland
Anzahl der Ankünfte und Ankunftsorte von Flüchtlingen in Griechenland
2000
0
4000
6000
8000
10 000
12 000
2017 2018 2019
bis 29. September12 017
1393
Januar
4886
September
6854
April
9334
August
Ankünfte bis
- September 2019
rückgehen, wie man inGriechen-
landhofft.
Dertürkische Außenminister
MevlütCavusogluspieltedasThema
herunter.Ers prach nach seinem
Treffen mit Seehofer voneinem
„kleinen AnstiegvonAnkünften auf
den griechischenInseln“ undvon
„unbegründeten Vorwürfen gegen
dieTürkei“.
Beiden Gesprächen ging es aus
türkischerSicht vorallem um zwei
Themen: mehrGeld und politische
Unterstützung der EU für diePläne
Ankaras ,zweiMillionen syrische
Flüchtlinge aus der Türkei in eine
Schutzzone inNordsyrien umzusie-
deln.DieTürkeibeherbergtnachei-
genen Angaben bereits rund vier
Millionen Migranten und fürchtet
nun eine neueFlüchtlingswelle aus
der umkämpften syrischenRegion
Idlib.
DerMigrationsdruckaufdieTür-
keisei„gewaltig“undsteigeweiter
an,sagteSeehofernacheinemTref-
fenmitseinemtürkischenAmtskol-
legenSüleymanSoylu.Manmüsse
deshalb dasFlüchtlingsabkommen
stärken. ZudenUmsiedlungsplänen
äußerte sich Seehofer „kritisch“.
ÜbermehrGeldwillerabermitsich
reden lassen. Darüber werdeermit
der neuen EU-Kommission spre-
chen,„damit das sehr schnell ange-
gangenwird“,versprachSeehofer.
ErdogansDrohungen
Im Flüchtlingsdeal, der im März
2016 geschlossenwurde,hatte die
EU der Türkei Finanzhilfen von
sechsMilliardenEurofürdieUnter-
bringung undVersorgung syrischer
Flüchtlingezugesagt.Davonwur-
dennachDarstellungderBrüsseler
Kommissionbereits 5,6 Milliarden
Euro bereitgestellt. Dietürkische
Regierung klagt hingegen, bisher
seien erst 2,6 Milliarden Euro ge-
flossen.„Versprechensolltengehal-
ten werden“, sagte Außenminister
Cavusogluam Freitag im Hinblick
aufdieGelder.DertürkischeStaats-
chef Recep Tayyip Erdogan drohte
injüngsterZeitmehrfach,erwerde
„die Tore öffnen“–also Migranten
massenhaftnach Europa schicken
–,wenndieEUkeineweiterenZah-
lungenleiste.
In Athen drehten sich Seehofers
Gesprächeumtechnischeundorga-
nisatorische Hilfe bei den Asylver-
fahren. DieAthener Regierung will
dieBearbeitungderAsylanträge,die
derzeit noch mehrereJahredauern
kann,beschleunigen.InZukunftsoll
innerhalbvondreiMonatenletztin-
stanzlich entschieden werden, ob
ein Bewerber Asyl erhält oder abge-
lehntwird.DazusollenbeiderAsyl-
behördezusätzlicheMitarbeiterein-
gestelltunddieEinspruchsmöglich-
keiten in den Verfahren einge-
schränktwerden.
Hinterzersprungenen
Fenstern
LiebeAnja,
DasirreGetümmelaufdemCar-
mel-Markt, dieFarben desSonnen-
untergangs übermMeer,die Koch-
düfteausdenHäusern–mirfehltdas
hier,und wenn ich daran denke,
kommtmirallesunwirklichvor–du
mit Freundinnen auf der Allenby-
Ecke King-George-Straße vorAn-
bruchdesFeiertags ,undAharon,ich
und dieKinder am JüdischenNeu-
jahrbei FreundeninderChristinen-
EckeLottumstraße.VerkehrteWelt.
Aber in deinem letzten Brief
klingt auch etwas anderes mit:
Heimkehr.Wenigstens hörtsich das
fürmichsoan:DerVerzichtaufden
Hebräisch-Kurs (völligverständlich
natürlich), der leichteNeid auf die
Freundinnen,diedenFliegerzurück
nachBerlinbestiegen.Undvorallem
atmete deinBrief Liebe zuTelAviv.
Wiesehr man etwas liebt, erkennt
man immer dann,wenn derAb-
schiednäherrückt.
Ichhingegen schlage zusehends
WurzelnindeinerStadt.Esisteinei-
genartigesGefühl,beängstigendund
großartigzugleich.Jetztzum Beispiel
isteshalbneunUhrabends,undich
sitzeinm einemKultursaloninFried-
richshain,einemViertel,überdasich
bis vorkurzemkaum etwas wusste.
Oder meine beidenKinder,die gern
in die deutsch-englische Schule ge-
henundnichtmehrfragen,wannwir
nach Israel zurückkehren.In einem
Monat soll dasBuch mit unserem
Briefwechsel herauskommen–und
kurzdanachmeineneueCDmiteng-
lischenSongs,dieichin Berlinaufge-
nommenhabe.
EsisteinseltsamesGefühl,anei-
nem Or tzuv erwur zeln, der so an-
Berlin–Tel Aviv
ders ist als meineHeimat. Ichlege
dasFundament,zieheStrebenhoch,
mache Fehler,lerne jedenTagwas
Neues.Und kaum überraschend
wächst mit den tieferenWurzeln
auchmeineSehnsucht,unddieEnt-
fernungzwischenBerlinund TelAviv
wirdimmerdeutlicher.
DastollePraktikanten-Team,das
mit mir arbeitet, ist längst heimge-
gangen, und ich bin geblieben, um
dirin Ruhezuschreiben.Ichbinzum
ersten Malabends allein hier.
Manchmal überquertjemand den
Innenhof, oder draußenrollt ein
Skateboardvorbei. Ichhabe beide
Türenzweimalabgeschlossen.
Ichweiß, dass sich derVandalis-
mus nicht gegen mich oderFramed
richtet, sonderngegen denHausbe-
sitzer ,doch er weckt gemischteGe-
fühle bei mir,als Immigrantin in ei-
nem attackiertenHaus.Glücklicher-
weiselerneichdasVierte limmerbes-
ser kennen, treffe nette,interessante
Menschen, die hereinkommen und
entdecken, was wir machen. Ich
möch tehierbleiben,trotzderhohen
Mieteund des Nachbarschaftskrie-
ges.Ich möchte eineBegegnungs-
stätte führen, dieKunst fördertund
Gewalt und Rassismus entgegen-
wirkt. Dieses Unterfangen mag klein
undunbedeutendfürdasUniversum
sein,aberesistwichtigfürmich.
Morgen fliegen wir für ein paar
Tage nachIsrael.Uns erwartet der
- Geburtstag meinerGroßmutter,
und ich freue mich aufJomKippur.
AufdieStille.Aufdas Radelnaufau-
tofreier Straße am Meer en tlang. Es
wirdschön werden,diesen Tagmit
derganzenFamiliez uverbringen.
Außerdem winkt mir eineTages-
fahrtinden Negev,zud em Künstler
DovOr-Ner,demunserenächste Aus-
stellunginFramedgilt.Dovistein93-
jähriger Holocaustüberlebender,und
daernichtselbstnachBerlinkommt,
fahreichzuihm,umseineBildermit-
zunehmen. Ichfinde sieerschüt-
ternd, kühn, modern, gespickt mit
Humor und Schmerz.Daswirdeine
ausgefalleneVernissage: DovsBilder,
einMusikerausJaffa,eineBauchtän-
zerinaus Berlin und einDarbuka-
Spieler ausSyrien. Ichbin gespannt,
wiedashierankommenwird.
DeineYael
Übersetzung: Ruth Achlama
Ichhabe einiges über dasViertel
gelernt, seitFramed imMaihierher
umgezogenist. Unteranderemhabe
ichfestgestellt,dassichunwissentlich
in einenGentrifizierungskrieg gera-
tenbin,derübermeinenKopfhinweg
zwischendemEigentümerundeiner
Gruppe Anarchisten ausgefochten
wird. DahersinddieScheibenander
Front vonFramed immer nochzer-
sprungen–undder Eigentümerrepa-
riertsie trotz allerVersprechungen
schon seit einem halbenJahr nicht.
Undjeden Morgensi ndneueGraffiti
undAufkleb er da. Manchmal erwar-
ten mich sogar Plasti kbeutel mit
HundekackeaufderSchwelle.
Ya el Nachshon