Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 11


BUCH ZWEI


D


ie Kapitänin vermutet schon
länger, dass an den Befehlen
der Küstenwache etwas faul
ist. Mit Begründungen, die ihr
immer merkwürdiger vorkom-
men, lotst die Leitstelle sie aus der
Rettungszone vor der libyschen Küste in
meilenweit entfernte Gewässer vor der
italienischen Insel Lampedusa. Als gleißen-
de Flutlichter die Dunkelheit durchbre-
chen, hat die Kapitänin derIuventaGewiss-
heit: Sie sitzt in der Falle. Schnellboote der
italienischen Küstenwache umkreisen ihr
Schiff, über Lautsprecher wird sie aufgefor-
dert, den Hafen anzusteuern. Kapitänin
Pia Klemp sagt zu ihrer Crew: „Ich glaube,
wir sind am Arsch.“
Das war 2017, in der Nacht zum 2. Au-
gust. DieIuventawar das erste Rettungs-
schiff, das im Zuge der Flüchtlingskrise
von der italienischen Justiz beschlag-
nahmt wurde, zu einem Zeitpunkt, als
noch rund ein Dutzend solcher zivilen Boo-
te im Mittelmeer kreuzte. Zwei Jahre spä-
ter, im Sommer 2019, sollte die deutsche
Kapitänin Carola Rackete zur Figur der
Zeitgeschichte avancieren – weil sie gegen
den Willen der italienischen Regierung mit
derSea-Watch 3den Hafen der italieni-
schen Insel Lampedusa angesteuert hatte,
an Bord waren 53 Menschen aus Libyen.
Rackete kennt längst jeder, Pia Klemp bis
heute kaum einer.
Wer sich auf die Suche begibt, herauszu-
finden, weshalb Italiens Regierung private
Seenotretterinnen wie Klemp und Rackete
in den vergangenen Jahren kriminalisiert
hat, die Häfen für deren Schiffe schloss
und deren Helfer anklagte, muss sich zu-
rückbegeben in jene Nacht Anfang August
2017, an Bord derIuventa. Etwas ist damals
gekippt. Der FallIuventawar das letzte
Glied in der Kette von Ereignissen, die in
Italien den Boden bereiteten für eine Krimi-
nalisierung der Flucht: Aus Migranten wur-
den Verbrecher, aus Seenotrettern auch.
Ein Sommernachmittag in Bonn, Pia
Klemp sitzt in einem Café, bestellt Cappuc-
cino mit Hafermilch und dreht eine Zigaret-
te. „Viel Spaß noch in der langweiligsten
Stadt der Welt“, wird sie zum Abschied sa-
gen, nachdem sie ihre Geschichte erzählt
hat. Die begann vor 35 Jahren in Bonn, im
Schoss einer deutschen Mittelstandsfami-
lie. Sie hatte eine schöne Kindheit, es fehlte
an nichts, alles war gut. Nur dass in Wirk-
lichkeit gar nichts gut war. Die Welt geht
zugrunde, fand Pia Klemp, an Hass, Gleich-
gültigkeit, Gier. Sie wollte nicht tatenlos
zusehen. Sie brach ihr Biologiestudium ab
und ging nach Indonesien, um sich in Na-
turschutzprojekten zu engagieren, später
bekämpfte sie im Südpolarmeer illegalen
Walfang und sie erlernte nebenbei das
Handwerk der Kapitänin.


Kehrte sie in all den Jahren heim, wurde
sie schnell schweigsam. Die alten Freun-
dinnen und Freunde sprachen von Kin-
dern und Krediten, Klemp dachte an Wi-
derstand und Träume, die sie damals
hatten. Hatten sie nicht zusammen diese
Welt zerschlagen wollen, um auf den Trüm-
mern eine neue zu errichten? Wo war der
Wille hin? „Let’s make love and revolution,
baby“, sagt eines ihrer Tattoos, das man
jetzt nicht sieht, sie trägt Jeans, T-Shirt
und Jeansjacke. Klemp ist Anarchistin, will
Freiheit, Gleichberechtigung und Basisde-
mokratie, und das für alle. Ihre Stimme ist
ernst, wenn sie das sagt, beinahe leise.
Doch ebenso häufig lacht sie herzlich.
Klemp ist eine Kämpferin, aber sie wirkt
meist sehr rational.
Seit sie in der Nacht zum 2. August 2017
in Lampedusa an Land ging und von Sicher-
heitskräften empfangen wurde, gibt es
zwei Meinungen. Für die einen ist Pia
Klemp eine Heldin, die als eine der Letzten
die europäischen Werte hochhält. Für die
anderen, darunter halb Italien, ist sie eine
verdammenswerte Fluchthelferin, die mit
Schlepperbanden paktierte.
Aber wer ist Pia Klemp wirklich?
Die Staatsanwaltschaft im siziliani-
schen Trapani ermittelt wegen „Beihilfe
zur illegalen Einwanderung“, nicht nur ge-
gen Klemp, sondern gegen neun weitere
Crewmitglieder, die zwischen August 2016
und August 2017 auf derIuventa waren, ei-
nem alten Fischkutter, der 2015 von der
kleinen Berliner Nichtregierungsorgani-
sation „Jugend Rettet“ gekauft und umge-
rüstet worden war. Die Untersuchung der
Justiz ist nahezu abgeschlossen, am



  1. September besprechen die Parteien
    vor Gericht letzte Verfahrensdetails. Vieles
    deutet darauf hin, dass die Staatsanwalt-
    schaft Anklage erheben wird. Der Kapitä-
    nin und ihren Mitstreiterinnen und Mit-


streitern drohen bis zu 15 Jahre Haft. Es wä-
re das erste Mal, dass Seenotretter mit
Haft bestraft werden. Wie hatte es nur so
weit kommen können?
Zwei Jahrzehnte ist es jetzt her, dass die
Italiener begannen, ihre eigene Geschichte
zu vergessen. Mit einem Gesetz, das nach
und nach verschärft wurde, und das immer
in dieselbe Richtung: Kriminalisierung der
Migranten, später auch der Seenotretter.
Dabei war Italien selbst einmal ein klassi-
sches Auswandererland. Dreißig Millionen
Italiener verließen ihre Heimat im 20. Jahr-
hundert, der halbe Süden floh vor der Ar-
mut. Heute würde man diese Emigranten
Wirtschaftsflüchtlinge nennen – ein Be-
griff, der in den Ohren vieler inzwischen
eher nach Schwerverbrechern klingt.
Den Anfang der neuen Politik gegen Mi-
granten und Retter machte das Decreto le-
gislativo Nr. 286, das Immigrationsgesetz
von 1998. Es führte einen Tatbestand ein,
der alles verändern sollte: Begünstigung il-
legaler Einwanderung. In erster Linie ging
es darum, Schleuserbanden zu bekämp-
fen, also jene Schlepper mit ihren Behelfs-
booten und Trawlern, die Migranten gegen
Geld über das Mittelmeer nach Italien
brachten. 1997, im Jahr vor der Verabschie-
dung dieses neuen Gesetzes, hatten etwas
mehr als 22 000 Migranten in Italien ange-
legt. In den Jahren davor, als auf dem Bal-
kan Krieg tobte, kamen ähnlich viele –
manchmal an nur einem einzigen Tag. Ins
Gedächtnis der Italiener gebrannt hat sich
damals das Bild der Ankunft derVloraam


  1. August 1991. Das Handelsschiff hatte in
    Bari angelegt, mit 20 000 Menschen an
    Bord, alle aus Albanien, sie flüchteten nach
    dem Zusammenbruch des stalinistischen
    Regimes vor politischen Wirren und wirt-
    schaftlicher Misere. Die Hafenmole war
    schon brechend voll, da waren viele noch
    gar nicht von Bord derVloragegangen.


Das Foto steht für eine Zäsur: Italien
wandelte sich vom Auswanderungs- zum
Einwanderungsland. Zunächst öffneten
die Italiener ihre Herzen, wahrscheinlich
erinnerten die Bilder der Bootsflüchtlinge
viele an die Überfahrten der eigenen Vor-
fahren – nach New York, nach Buenos Ai-
res. In fast jedem italienischen Familienal-
bum gibt es Fotos aus jener Zeit. Das neue
Gesetz, Nr. 286, war eine Folge dieses Wan-
dels. 7000 Kilometer Küste, wie Italien sie
hat, sind kaum kontrollierbar. Das Gesetz
sah für die Begünstiger illegaler Einwande-
rung Strafen von ein bis drei Jahren vor,
und Geldstrafen von umgerechnet bis
15 000 Euro für jeden einzelnen eingereis-
ten Illegalen. Im Kern hieß das: Die Lebens-
retter sind nicht besser als die Schlepper.
2001 kam Silvio Berlusconi zurück an
die Macht. Im Kabinett saßen Gianfranco
Fini, ein halbwegs geläuterter Faschist,
und Umberto Bossi, der Querschläger von
der Partei Lega, die in Ausländerfragen
schon damals sehr rechts stand. Die drei ar-
beiteten ein Immigrationsgesetz aus, das
den Namen der zwei Rechtsausleger trägt:
„La Bossi-Fini“ erhöhte die maximalen
Strafen auf 15 Jahre Haft und gab der Immi-
grationspolitik noch mehr Rechtsdrall.
Man setzte auf Repression. Immer öfter
kam es vor, dass die Polizei Fälle ahndete,
die unter die „humanitäre Klausel“ fielen.
So nennt man Artikel 12 aus Gesetz Nr. 286.
Er sieht vor, dass von Verfolgung ausge-
nommen sei, wer Menschen in größter Not
hilft, auch wenn sie keine Papiere haben.
Zum Beispiel Menschen in Seenot.
Diese Fälle sollten sich in den folgenden
Jahren häufen, und zwar auf der zentralen
Route durch das Mittelmeer, zwischen Liby-
en und Italien. Sie gilt als gefährlichste
Fluchtstrecke der Welt, vor allem auch we-
gen ihres Ausgangspunktes: Libyen, einer
früheren italienischen Kolonie. Das Land
war kein Paradies, als Diktator Muammar
al-Gaddafi es regierte, aber er hielt es zu-
sammen. Den Italienern drohte er mit
Flüchtlingsströmen, wenn die ehemaligen
Kolonialherren ihr Unrecht an Libyen nicht
wiedergutmachten. Hunderttausende Afri-
kaner würden nur darauf warten, nach Itali-
en überzusetzen. Er sitze „am Wasserhahn“


  • und könne diesen auf- oder zudrehen.
    Berlusconi konterte mit Geld. 2009 un-
    terzeichneten er und Gaddafi ein Abkom-
    men: fünf Milliarden Dollar für eine Auto-
    bahn entlang der libyschen Mittelmeerküs-
    te. Dafür würde Gaddafi die Migranten zu-
    rückhalten. Zwei Jahre später wurde Gad-
    dafi gestürzt, Libyen versank im Chaos,
    zerfiel in mehrere Machtzentren, Milizen
    übernahmen das Schleppergeschäft. Für
    viele Migranten, die Libyen als Transitland


 Fortsetzung nächste Seite

Notaufnahme


Sie bewahren Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer.


In Italien wird ihnen deswegen der Prozess gemacht.


Privaten Seenotrettern schlägt entweder Bewunderung entgegen


oder Hass. Warum die Lebensretter kriminalisiert werden –


und eine junge deutsche Kapitänin keine Dankbarkeit möchte


von christof gertsch und oliver meiler


Das neue Gesetz Nr. 286 hieß
im Kern: Lebensretter sind
nicht besser als die Schlepper

Pia Klemp hat noch Träume. Sie


will Freiheit, Gleichberechtigung


und Basisdemokratie für alle


Pia Klemp an Bord derSea-Watch 3: Die Kapitänin findet, dass die Welt zugrunde geht an Hass,
Gleichgültigkeit, Gier. Dabei wolle sie nicht zusehen, sie rette daher Flüchtlinge. Auf einer ihrer Tätowierungen
steht: „Let’s make love and revolution, baby.“
Nun drohen Klemp, die auch mit derIuventaunterwegs war, in Italien bis zu 15 Jahre Haft –
weil sie Menschen gerettet hat.FOTO: PAUL LOVIS WAGNER (OBEN) UND DPA (UNTEN)
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