Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
 Fortsetzung von Seite 11

auf demWeg nach Europa gewählt hatten,
wurde das Leben zur Hölle. Gefangen in La-
gern, gefoltert, vergewaltigt. Die Zahl der
Überfahrten nahm drastisch zu, die Italie-
ner erinnerten sich an Gaddafis Satz vom
Wasserhahn. Aber drüben herrschte Bür-
gerkrieg, der Drang zu fliehen war längst
größer als die Angst vor der Überfahrt.
Bald wuchs in der italienischen Bevölke-
rung das Gefühl, das restliche Europa lasse
sie mit dem Flüchtlingsproblem alleine.
Das war der Boden, auf dem Matteo Salvi-
ni, der neue Chef der rechten Lega, populär
werden sollte. Doch noch regierte die Lin-
ke. Im Innenministerium saß der frühere
Kommunist Marco Minniti. Der hatte ei-
nen Mehrstufenplan, um den Zustrom der

Migranten zu stoppen. Er besuchte deren
afrikanische Herkunftsländer, lud Stam-
mesälteste und Bürgermeister aus dem Sü-
den Libyens zu sich nach Rom, redete mit
den beiden verfeindeten Regierungen im
Land. Am Ende gab es aus Rom und Brüs-
sel wieder viel Geld, aber auch Training,
Motorboote und Radargeräte für den Auf-
bau einer libyschen Küstenwache. Die soll-
te dafür sorgen, dass die Schlepperboote
nicht mehr ablegten.
Der Deal war umstritten. Es hieß, die
libyschen Milizionäre, die bis dahin als
Schleuser gearbeitet hatten, wären einfach
zur Küstenwache gewechselt. Vor allem
aber: Die Migranten, denen die Flucht aus
der Hölle der Lager gelungen war, wurden
in ebendiese Hölle zurückgebracht. Die
Zahl der Ankünfte in Italien aber ging dra-
matisch zurück, Minniti gewann selbst bei
der italienischen Rechten Ansehen.
Der Rest ist Gegenwartsgeschichte. Sal-
vini wurde Innenminister. Plötzlich redete
niemand mehr von den Schleppern, son-
dern nur noch von den NGOs, den Nichtre-
gierungsorganisationen. Es war, als wären
diese schlimmer als die Banden. „Vize-
schlepper“ nannte Salvini sie, „Freunde
von George Soros“. Die Häfen schloss er

selbst für Schiffe der italienischen Küsten-
wache, die Migranten gerettet hatten, ob-
schon er dazu überhaupt nicht berechtigt
war. In den Umfragen gewann Salvinis Le-
ga weiter dazu, seine Pose des kaltschnäu-
zigen Hafenwarts gefiel, bei den Europa-
wahlen im Mai stand er bei 34,3 Prozent.
Salvini wollte seine Kompetenzen ge-
genüber den Rettern immer weiter ausbau-
en. Doch da regte sich bei seinen damali-
gen Regierungspartnern, den Cinque Stel-
le, plötzlich doch ein wenig Widerstand:
Sie weichten die Machtinstrumente des In-
nenministers auf. Dennoch sehen die neu-
en Dekrete vor, dass NGOs, die sich dem
Verbot widersetzen und trotzdem in Italien
anlegen, bis zu eine Million Euro Strafe be-
zahlen müssen. Zudem sollen ihre Schiffe
beschlagnahmt werden – und die Crews ris-
kieren nun Gefängnis.
Es könnte sein, dass die jetzt ins Amt ge-
kommene Regierung aus Cinque Stelle
und Sozialdemokraten Salvinis Gesetz-
gebung abmildert, die Strafen herabsetzt,
die Partnerstaaten in Europa auf einen au-
tomatischen Verteilungsmechanismus ein-
schwört. Aber grundlegend ändern wird
sie nichts: Das würde Salvini, der sich in
Hoffnung auf Neuwahlen politisch kom-
plett verspekuliert hat und nun Oppositi-
onschef ist, nur in die Hände spielen.
Die juristischen Grundlagen für Ret-
tungseinsätze auf hoher See sind im Prin-
zip glasklar: Menschen in Seenot muss
geholfen werden. Private Rettungsmissio-
nen wie jene derIuventa-Crew erfüllen
also bloß eine Pflicht, der jeder auf See un-
terliegt. Im Detail gibt es allerdings Unklar-
heiten. Etwa in der Frage, wann ein Schiff
wirklich in Seenot ist. Die internationalen
Regelungen stammen aus Zeiten, als nie-
mand ahnen konnte, dass Tausende die
Flucht übers Mittelmeer wagen würden, in
überfüllten Schlauchbooten, auf den Weg
gebracht von Schlepperbanden.
In einer Einschätzung aus dem Jahr
2017 schreibt der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestags, dass generell von
Seenot ausgegangen werde, „wenn die be-
gründete Annahme besteht, dass ein
Schiff und die auf ihm befindlichen Perso-
nen ohne Hilfe von außen nicht in Sicher-
heit gelangen können und auf See verloren
gehen“. Beim Gespräch in seiner Kanzlei in

Rovereto sagt Nicola Canestrini, der italie-
nische Anwalt der Crew: „Nichts anderes
haben die Leute von derIuventagetan.“
Ihnen drohe „ein politisch motivierter
Schauprozess“.
Der Anwalt sagt: „Wir alle haben Angst
vor dem anderen, sind tief in uns drin xeno-
phob, vielleicht sogar rassistisch. Aber bis
vor einem Jahr schämte man sich, so etwas
auszusprechen.“ Salvini habe das geän-
dert. „Jetzt“, sagt Canestrini, „fürchtet sich
in Italien niemand mehr, das Schlimmste
zu sagen.“
Sechzehn Missionen ist die NGO „Ju-
gend Rettet“ in den zwölf Monaten bis zur
Festsetzung derIuventaauf See gewesen,
hat nach eigenen Angaben mehr als
14000 Menschen gerettet, mit wechseln-
den Teams aus insgesamt mehreren Hun-
dert Freiwilligen. Die Kapitänin Pia Klemp
nennt diese Freiwilligen „Diamanten im
Scheißhaufen der Unmenschlichkeit“. Es
sind junge Leute aus Deutschland und an-
deren europäischen Ländern, Hausbesetze-
rinnen und Maschinenbauer, Hippies und
Chirurginnen. Manche nahmen unbezahl-
ten Urlaub für den Einsatz im Mittelmeer,
andere ließen sich krankschreiben.

Umso undurchsichtiger ist, warum nur
zehn Crewmitglieder von der Untersu-
chung der Justiz betroffen sind – und war-
um gerade diese zehn. Sie befanden sich
nie alle gemeinsam an Bord. Sie heißen
Pia, Dariush, Ulrich, Sascha, Zoe, Hendrik,
Laura, Kathrin, Miguel und nochmals Mi-
guel, sie sind zwischen 23 und 43 Jahre alt.
Dass die Ermittlungen mit der Beschlag-
nahme derIuventanicht abgeschlossen wa-
ren, sondern danach sogar ausgeweitet
wurden, wissen sie erst seit dem Sommer
2018, als italienische Medien darüber be-
richteten. Etwas später erhielten sie ein
Schreiben, in dem man sie informierte,
dass ihre Handy- und Laptopdaten ausge-
wertet werden sollen.
Es gibt einen Dokumentarfilm über die
Iuventa, gedreht vom italienischen Regis-
seur Michele Cinque. Er erzählt die Ge-

schichte von Menschen, die sich ange-
sichts der Flüchtlingstragödie nicht in ihre
Beschaulichkeit zurückzogen, sondern et-
was tun wollten. Berliner Studenten, die
Geld sammelten, ein Schiff kauften, Crews
rekrutierten. Kürzlich ist der Roman „Lass
uns mit den Toten tanzen“ erschienen, ge-
schrieben hat ihn Kapitänin Klemp. Es ist
ein wütendes Buch, in dem sich aber auch
Schönheit zeigt: „Wo sind die Erwachse-
nen?“, schreibt Klemp. „Unbeaufsichtigt
machen wir das alles. Keiner schaut hin,
und genau das ist das Problem.“
Die Geschichte der Beschlagnahme der
Iuventawirft jede Menge Fragen auf. Sie
beginnt am 10. September 2016 und ist gut
dokumentiert. Vieles lässt sich aus der
551-seitigen Beschlagnahmungsverfü-
gung herauslesen, die derSüddeutschen
Zeitungvorliegt, Ergänzungen haben Jour-
nalisten derZeitund des italienischen Ma-
gazinsFamiglia Cristianaherausgefun-
den, auch die Crew hat recherchiert.
Im Herbst 2016 werden die Seenotretter
noch gefeiert. Aber dann kippt die Stim-
mung, befeuert von einem Salvini im Wahl-
kampfmodus. Die Rechte wartet auf eine
Gelegenheit, den Seenotrettern das Hand-
werk zu legen. In der Person eines Sicher-
heitsmannes scheint diese Gelegenheit
plötzlich gekommen. Ex-Polizist Pietro
Gallo, dessen neuem Arbeitgeber IMI Secu-
rity später Verbindungen zur rechtsradika-
len Identitären Bewegung nachgewiesen
werden, befindet sich an Bord derVos Hes-
tia, eines anderen Rettungsschiffs. Gallo
und zwei weitere Kollegen arbeiten im Auf-
trag der Reederei, der das Schiff gehört.

An diesem 10. September kreuzt dieVos
Hestiain der Nähe derIuventa, in der soge-
nannten Such- und Rettungszone vor der
libyschen Küste. Es ist ein hektischer Tag,
auf derIuventabefinden sich um die Mit-
tagszeit bereits mehr als 400 Geflüchtete,
zu viel für den alten Kutter, der nicht dafür
ausgerüstet ist, solche großen Gruppen Ge-
retteter an Land zu bringen. Sie sollen
daher auf dieVos Hestiaumsteigen. Im
Verlauf des Nachmittags beobachtet Ex-Po-
lizist Gallo, wie eines der Flüchtlings-
schlauchboote von derIuventaablegt. Er
will zwei Männer mit dunkler Hautfarbe er-
kannt haben – Schlepper, wie er denkt. Für
Gallo ist es der Beleg, dass dieIuventa-
Crewin kriminelle Machenschaften verwi-
ckelt ist. Seinetwegen glaubt das bald auch
halb Italien.
Drei Dinge stellen dies aber infrage. Ers-
tens existieren keine Videos oder Fotos, die
den Vorwurf belegen. Zweitens wird der da-
maligeIuventa-Kapitän, gegen den eben-
falls ermittelt wird, später erklären, dass
die Männer zu seiner Crew gehörten. Nach
der Rettung der Geflüchteten beauftragte
er sie, das Schlauchboot zu zerstören, da-
mit es nicht wieder in die Hände von
Schleppern fällt; das war unter den NGOs
im Mittelmeer üblich. Und drittens sind
Gallos Motive fragwürdig. Denn noch ehe
er und seine beiden Kollegen ihre Beobach-
tungen der Polizei mitteilen, wenden sie
sich an das Büro von Salvinis Lega-Partei
in Mailand.
Gallo wird sich später gegenüber der
Zeitrechtfertigen, er habe geglaubt, nur
die rechten Oppositionsparteien seien im-
stande, dem Sterben im Mittelmeer Ein-
halt zu gebieten. Und dann meldet sich
Salvini, zu dem Zeitpunkt Europaabgeord-
neter, bei einer Kontaktperson von Gallo.
Er macht den Sicherheitsmann zu seinem

Privatspion, der ihm Crewlisten, Fotos und
Videos von derVos Hestiazukommen lässt.
All das gibt Salvini später selbst zu. Erst
Mitte Oktober 2016 sprechen Gallo und sei-
ne Kollegen bei der Polizei vor. Ermittlun-
gen werden aufgenommen, auf derIuven-
tawird die Kommandobrücke verwanzt. In
den folgenden Monaten werden zwei weite-
re scheinbar illegale Vorfälle dokumen-
tiert. Auch sie fließen in die Verfügung ein,
die im August 2017 zur Beschlagnahmung
derIuventaführt. Zusammen mit Gallos
Beobachtungen vom 10. September bilden
sie die Grundlage, auf der die Behörden
den Verdacht formulieren, die Iuventa
habe nicht Menschen aus Seenot gerettet,
sondern diese direkt von Schleppern über-
nommen.
„Die Vorwürfe sind haltlos“, sagt Nicola
Canestrini, der Anwalt in Rovereto. Es ist
ein Satz, den man häufig genug von Vertei-
digern hört. Aber Canestrini hat Argumen-
te. In denIuventa-Fall hat sich nämlich
Forensic Architecture eingeschaltet, eine
Gruppe von Architekten, Journalisten, Fil-
memachern, IT-Spezialisten und Grafi-
kern, die es zu einiger Berühmtheit ge-
bracht hat: Mittels neuartiger Verfahren
rekonstruiert sie Schauplätze, um Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit aufzuklä-
ren. Sie sammelt Bild- und Tonaufnah-
men, erstellt dreidimensionale Modelle
und Landkarten.
Zum Iuventa-Fall erstellte sie eine
halbstündige Animation, in der die Beweis-
führung der italienischen Behörden ent-
kräftet wird. Besonders überzeugend ge-
schieht das im Zusammenhang mit einem
Vorkommnis vom 18. Juni 2017. Ein kurzes
Video eines Journalistenteams, das sich da-
mals im Mittelmeer befand, genügte den
Behörden offenbar, um den Vorwurf zu
konstruieren, jemand von derIuventa-
Crew bringe zwei Holzboote in Richtung li-
bysche Küste, damit die Schlepper sie wie-
der benutzen können.
Forensic Architecture hat zahllose Quel-
len zusammengetragen, die das Gesche-
hen dokumentieren: Filmsequenzen von
Helmkameras, Notizen aus Logbüchern,
meteorologische Aufzeichnungen, Zeugen-
aussagen, Motion Tracking, Satellitenauf-
nahmen. In einer Simulation, die andere
Schiffe, die Windrichtung, die Strömung
und die Wellen erkennen lässt, sieht man,
dass die fraglichen Holzboote eindeutig
nach Norden unterwegs ist – nicht in Rich-
tung Libyen, sondern in Richtung Italien.
Doch die Justiz erhebt weitere Vorwür-
fe. So habe dieIuventa-Crew sich gewei-
gert, mit der Seenotleitstelle zusammenzu-
arbeiten, dem MRCC in Rom, von wo aus
Rettungseinsätze im Mittelmeer koordi-
niert werden. Und sie sei auf eigene Faust
in libysches Hoheitsgebiet vorgedrungen.
Dem widerspricht sogar ein Admiral der
italienischen Küstenwache: Gegenüber
den Ermittlungsbehörden sagte er, kein
Rettungsschiff sei je ohne Rücksprache in
libysche Gewässer gefahren.
Was von den Anschuldigungen übrig
bleibt, ist die Frage, die nun auch Anwalt
Canestrini in Rovereto beschäftigt. Sollte
es zum Prozess kommen und sich der
Staatsanwalt auf die in der Beschlagnah-
mungsverfügung vom August 2017 aufge-
führten Vorwürfe beschränken, falle ihm
die Verteidigung leicht, sagt der Anwalt. So-
bald Anklage erhoben wird, erfährt er
auch, welche Verdachtsmomente die Er-
mittler seit der Beschlagnahmung zutage
gefördert haben, die Staatsanwaltschaft in
Trapani reagierte auf entsprechende Anfra-
gen derSüddeutschen Zeitungnicht. Canes-
trini sagt: „Die Crew hat nichts Unrechtes
getan. Aber das war schon 2017 klar, trotz-
dem wurde das Schiff beschlagnahmt.“

Die Frau, die am 18. Juni 2017 zwei Holz-
boote in Richtung Libyen schleppte, wie
die italienischen Behörden behaupten,
oder in Richtung Italien brachte, wie Foren-
sic Architecture glaubt, ist mit 23 Jahren
das jüngste Crewmitglied, dem der Pro-
zess gemacht werden soll. Und irgendwie
auch das zufälligste. Iuventa-Kapitänin
Pia Klemp war ihr vor der Beschlagnahme
ihres Schiffs nur einmal begegnet, bei ei-
ner Crewablösung Anfang Juli 2017. Als
Klemp an Bord ging, sah sie in lauter er-
schöpfte Gesichter: „Die hatten so viel
Scheiße erlebt. Aber da war auch diese
Frau, Zoe, sie fiel mir sofort auf. Sie war ei-
ne Granate, ein Kampfschwein.“
Zoe will ihren Familiennamen nicht nen-
nen, sie will sich und ihre Angehörigen
schützen. Ihren Einsatz auf derIuventaer-
klärt sie so: Sie hatte die Bilder der Ertrin-
kenden gesehen und gedacht: „Ich kann
ein Motorboot steuern, also muss ich hel-
fen.“ Zoe stammt aus Freiburg, ist politisch
interessiert. Ihre Hobbys: Segeln und Hun-
de. Sie befand sich in der Ausbildung zur
Bootsbauerin, als sie sich im Winter 2016
bei „Jugend Rettet“ meldete. Ihr Motiv da-
mals: „Ich verstehe nicht, wie man Men-
schen einfach sterben lassen kann.“

Auf derIuventawar sie für das Beiboot
zuständig, das immer dann ablegte, wenn
die Crew auf Menschen in Seenot stieß. Zoe
händigte den Flüchtlingen Schwimmwes-
ten aus, teilte der Kommandobrücke mit,
wie viele Frauen, Kinder und Tote an Bord
waren. Zoe bekam die Geflüchteten stets
als Erste zu sehen, am Steuer des Beiboots,
für die Flüchtlinge war sie das Gesicht Eu-
ropas. Manche sprangen ins Wasser, damit
sie möglichst schnell gerettet würden, an-
dere fuchtelten mit den Armen oder wein-
ten vor Glück. Zoe hatte zuvor nie einen
Leichnam gesehen, jetzt sah sie fast täglich
einen. Einmal waren zwei der Wasserlei-
chen so aufgedunsen, dass sie keinen Platz
in der Kühltruhe fanden. Zudem stanken
die Toten nach dem tagelangen Herumtrei-
ben im Meer. Die Crew legte sie in ein
Schlauchboot, das sie an derIuventafest-
machte. Aber keines der in der Gegend an-
wesenden Kriegsschiffe wollte die Toten
übernehmen, bis Italien reagierte, verging
eine Ewigkeit.
Zoe sagt, sie habe nie Angst gehabt, nur
vor der „sogenannten libyschen Küstenwa-
che“ habe sie sich gefürchtet. „Wir wussten
nie, wie die drauf sind.“ An einem Tag wa-
ren sie freundlich, an anderen versuchten
sie, die Flüchtlingsboote in libysches Ho-
heitsgewässer zurückzudrängen. Zoe sah,
wie die Küstenwächter die Menschen mit
Gürteln schlugen. Nach und nach sprangen
die Geflüchteten ins Wasser, fast alle Nicht-
schwimmer. Erst als sich niemand mehr
auf dem Boot befand, ließ die Küstenwache
von ihnen ab, ohne sich noch einmal umzu-
drehen. Um die Rettung kümmerte sich
dann Zoe, sie warf den um ihr Leben kämp-
fenden Menschen Westen zu und fragte
sich, warum Italien und die EU die Brutali-
tät der libyschen Küstenwächter mit ihren
Hilfsgeldern auch noch finanzierten.
Über den Vorwurf, sie habe am 18. Juni
2017 Boote zurück zu den Schleppern ge-
bracht, sagt sie: „Ich könnte lachen, wenn
es nicht so traurig wäre.“ Sie sei schockiert,
wie ein Video, auf dem man nur sie und ein
paar Boote sieht, als Beweis für eine Straf-
tat vorgebracht werden könne, die sie
nicht begangen habe. Sie sei von der Kom-
mandobrücke derIuventabeauftragt wor-

den, die Holzboote zu zerstören, was sie
aber nicht getan habe, weil der Ausguck
derIuventakurz darauf ein weiteres Boot
in Seenot entdeckte und höchste Eile gebo-
ten war.
Nach drei Wochen auf derIuventakehr-
te Zoe in ihr Leben zurück, ging wieder zur
Schule, baute Schiffe in der Werft am Bo-
densee. Von der Beschlagnahme derIuven-
tarund einen Monat nach dem Ende ihrer
Mission erfuhr sie aus der Ferne. Ein Jahr
später brach die Welt über ihr zusammen,
sie konnte es nicht fassen: Die italieni-
schen Behörden ermitteln gegen sie?
Zehn Menschen, die sich aus den unter-
schiedlichsten Gründen auf das deutsche
Rettungsschiff begeben hatten, fanden
sich so ungewollt als Schicksalsgemein-
schaft wieder, Aktivistinnen wie Pia
Klemp und Schülerinnen wie Zoe. Sie
durchforsteten Logbücher und ihr Ge-
dächtnis nach Geschehnissen, die Italien
gegen sie verwenden könnte. Sie versuch-
ten, die hektische Zeit auf dem Mittelmeer
zu rekonstruieren, wo sie umgeben gewe-
sen waren von hungernden, verletzten, ver-
zweifelten, kranken Geflüchteten.

Niemand von ihnen wollte je im Mittel-
punkt stehen, doch nun benötigten sie
Spenden, mussten Öffentlichkeitsarbeit in
eigener Sache betreiben. Sie traten auf Fes-
tivals auf, schlossen sich Demonstrationen
an, drehten Videos für soziale Medien. Ei-
ne halbe Million Euro brauchen sie für den
Fall, dass es zum Prozess kommt. Geld, das
für zehn Rettungsmissionen reichen wür-
de, für Tausende Leben. Doch genau das,
die Rückkehr aufs Mittelmeer, ist ihnen
verstellt: Die Ermittler machten deutlich,
dass Festnahme droht, wenn sie die ver-
meintliche Straftat wiederholen.
Warum also begegnet der italienische
Staat den Fliehenden und ihren Rettern so
streng? Mit Fremdenangst lässt sich be-
kanntlich Stimmung machen, lassen sich
Stimmen gewinnen. Italien stand nie vor ei-
ner „Invasion“, wie Salvini alle glauben ma-
chen wollte, sogar in den Jahren der gro-

ßen Ankunftswellen nicht. Die meisten An-
kömmlinge wollten ohnehin weg aus Itali-
en, in den Norden, nach Deutschland oder
Skandinavien. Und viele schafften es auch.
Und warum traf es ausgerechnet die Crew
derIuventaso hart?
Manche vermuten, die Staatsanwalt-
schaft sehe in der Organisation „Jugend
Rettet“ das denkbar schwächste Opfer. Kei-
ne andere im Mittelmeer tätige NGO ver-
fügt über so wenig Geld, so wenig Kontak-
te, so wenig Renommee. Andere, darunter
eine Quelle in der italienischen Staatsan-
waltschaft, sagen: Nie habe Italien einen
vielversprechenderen Fall gegen Seenot-
retter in der Hand gehabt. Vielleicht aber
geht es gar nicht darum, was damals im
Mittelmeer wirklich geschehen ist. Viel-
leicht ist das Ziel mit den sich hinziehen-
den Ermittlungen, den Drangsalierungen
und Anschuldigungen bereits erreicht: die
öffentliche Hinrichtung der Seenotretter.
Mit der Beschlagnahme derIuventawurde
eine Sicht in die Welt gesetzt, die mit einer
Verfahrenseinstellung oder einem Frei-
spruch auch nicht wegzukriegen wäre: Alle
Retter sind Kriminelle. Die Stimmung hat
sich gegen die Helfer gewendet.
Im Café in Bonn dreht sich Kapitänin
Pia Klemp eine letzte Zigarette. „Es ist gut,
dass unseretwegen die Kriminalisierung
von Seenotrettung thematisiert wird, nur
wird wieder nicht über die Menschen auf
der Flucht geredet, über die Gründe, die sie
aufbrechen lassen, und die Alternativlosig-
keit, die sie auf diese Todesroute zwingt.
Stattdessen stehen wir im Vordergrund,
hübsche Europäerinnen und Europäer, die
man noch gern im Fernsehen zeigt.“
Heldin oder Fluchthelferin – was ist Pia
Klemp jetzt wirklich? Sie sagt: Weder noch.
Sie sei weder gesetzesbrüchig geworden,
noch habe sie aus Mitleid gehandelt. Sie
hasse Barmherzigkeit, ihr Antrieb sei Soli-
darität. Die Geflüchteten seien die wahren
Aktivistinnen und Aktivisten. „Die neh-
men so viele Risiken auf sich, lassen sich
durch nichts abschrecken. Gegen alle Wi-
derstände nehmen sie ihr Recht auf Bewe-
gungsfreiheit wahr.“ Und dann sagt sie,
gerichtet an alle, die nichts gegen Geflüch-
tete haben, ihnen aber auch nicht zur Seite
stehen wollen: „Ihr könnt mich mal mit eu-
rer Dankbarkeit.“

Italiens Justiz will
die Handydaten von zehn Crew-
mitgliedern auswerten

NGOs zerstören verlassene
Schlauchboote – damit sie nicht
in Schlepperhände fallen

Bootsbauerin Zoe hatte noch
nie eine Leiche gesehen –
jetzt sah sie fast täglich Tote

500 000 Euro brauchen
die Crewmitglieder, falls es
zum Prozess kommt

Salvini gab den kaltschnäuzigen
Hafenwart – und erzielte bei den
Europawahlen 34,3 Prozent

12/13 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


Eine Somalierin zeigt
in einem Lager ihre
Narbe, libysche Schmuggler
in der Sahara hatten auf
sie geschossen.
FOTO: GIULIO PISCITELLI / CONTRASTO / LAIF

Auch dieser Flüchtling hat
Europa nicht erreicht – die
libysche Küstenwache hat
ihn vom Mittelmeer zurück
nach Tripolis gebracht.
FOTO: REUTERS


Erschöpfte Menschen, die
es nichtnach Europa
geschafft haben, in einem
Lager nahe Tripolis.FOTO: AFP

Ein libyscher Küsten-
wächter bewacht
Flüchtlinge, die in liby-
schen Hoheitsgewässern in
Seenot geraten waren.
FOTO: AFP

Die von Italiens Küsten-
wache im August 2017
beschlagnahmteIuventaim
Hafen von Lampedusa.
FOTO:IMAGO / ITALY PHOTO PRESS

Neun von zehn Crewmitglie-
dern derIuventa, denen in
Italien jetzt der Prozess
droht. Ganz links vorne
Kapitänin Pia Klemp.
FOTO: PAUL LOVIS WAGNER
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